Mit Blick auf seinen Kollegen trat ein junger Mann lachend zu Hanna Hansen, fragte: „Darf ich?“ Und trug ihren Koffer in sein Taxi. „Ich fahr Sie nach Hause. Sie wohnen doch noch im gleichen Haus?“ Der Taxifahrer mit dem schwarzen Schnauzbart und grünlila Schal kannte sie. Immer wieder schaute er in den Rückspiegel zu ihr. „Ich wusste, irgendwann würde ich sie wiedersehen.“
Sie hatte im Fond Platz genommen und kramte in ihrer Erinnerung. Wer war der Taxifahrer mit diesen schwarzen Haaren und den dunklen Augen? Hanna Hansen schwieg, sie suchte. Wie viele Jahre war es her? Er musste ein Schüler von ihr gewesen sein. Einer von den Schülern, die man nie mehr im Leben vergisst.
Sie erinnert sich und sieht Patricio, wie er nahe der Tür in der ersten Reihe sitzt. Ja, er hat große schwarze Augen und einen spitzbübischen Blick. Eine vierte Klasse. Die Kinder neun und zehn Jahre alt. Um seinen Platz herum, auf dem Tisch und darunter herrscht immer ein heilloses Durcheinander. Immer ist er beschäftigt, selten mit dem, was der Unterricht verlangt. Sich darauf zu konzentrieren, fällt ihm schwer. Zuhören? Mitarbeiten? Fehlanzeige! Lieber spielt er den Clown. Er gibt Geräusche von sich, brabbelt vor sich hin, spricht zu den neben und hinter ihm sitzenden Kindern, lacht, über sich selber oder in sich hinein. Ermahnungen, leise zu sein, befolgt er nicht. Sie ermahnt ihn: Patricio, wenn du nicht ruhig sein kannst, geh bitte in den Flur. Wenn du niemanden mehr stören willst, kommst du wieder herein. Mit „Hier gefällt’s mir sowieso nicht“ verlässt er seinen Platz. Alle lachen, er lacht auch. Kaum ist er an der Tür angekommen, öffnet er sie weit, geht zwei, drei Schritte, kehrt dann wieder um, schließt die Tür: „Ähm, ich will leise sein“ und lacht, die Klasse ebenfalls. Er geht wieder an seinen Platz, setzt sich. „Ich pass jetzt auf.“ Er ist sehr bemüht, aufmerksam zu sein, sitzt fest auf seinem Stuhl. „Ich will auf die Realschule“, sagt er. „Warum ist Schule so schwer? Okay, ich bin jetzt still.“ „Es kommt mir nur immer was dazwischen“, brabbelt er vor sich hin. „Mehr wollte ich nicht sagen. Psst!“ Lächelt und legt den Zeigefinger auf seinen Mund.
Patricio bringt alle immer wieder zum Lachen, auch sie muss oft schmunzeln. „Patricio ist lustig“, sagt der Junge, der neben ihm sitzt. „Das finden wir alle. Aber er sollte besser aufpassen“, schränkt er ein. „Ich wollte mich schon oft wegsetzen, weil er ganz schön stört, aber dann hab ich’s doch nicht gemacht. Es ist lustig neben ihm. “
„Alina ist das tollste Mädchen, ich hab sie am allerliebsten von der Klasse“, ruft Patricio eines Tages laut und ohne Scheu mitten in der Stunde in die Klasse und schaut zu ihr hin. „Iih, ist das peinlich“, kommentiert sofort jemand und viele stimmen ein. „Die große Alina und der kleine Patricio – wer kann denn so was ernst nehmen. Das soll wohl ein Witz sein?“ spotten sie und sind sich einig. Alina, ein sehr hübsches, hoch gewachsenes Mädchen ist die beste Schülerin der Klasse. Sie schweigt mit einer leichte Röte im Gesicht, als Patricio seine Zuneigung so laut verkündet. Er lässt sich nicht beirren. Da können die anderen lachen, wie sie wollen. Pah, lacht nur, das stört mich nicht. Ich weiß es. Alina ist die Schönste und die Beste, da ändere ich meine Meinung nicht. Wenn die Kinder in Gruppen zusammenstehen, findet man ihn sofort neben ihr. In der großen Pause sucht er ihre Nähe und zieht sie, die immer mit ihrer Freundin geht, ins Gespräch. Es macht ihm Spaß, sie zum Lachen zu bringen. Ihr gefällt es, dass sie so begehrt wird. Patricios Spontaneität und Fröhlichkeit mag sie. „Wenn ich größer bin, heirate ich dich“, sagt er und lacht. Die Mädchen kichern und Alina fühlt den Ernst, der in Patricios Lachen ist.
„Für dich“ und er überreicht ihr auf dem Schulausflug einen Feldblumenstrauß. Danke, sagt Alina und trägt ihn wie etwas Kostbares behutsam den ganzen Tag mit sich. „Du könntest mir ruhig ein paar abgeben“ bittet ein Junge und will sie necken. Alina lächelt. Du bist ja nur neidisch.
Patricios einfache Ehrlichkeit und wie er aus seinem Gefühl für das Mädchen keinen Hehl macht, es offen und unbeschwert zeigt, als wäre es etwas ganz Selbstverständliches, beeindruckt nicht nur Alina. Immer seltener macht sich jemand über ihn lustig. Die Kinder können sich nicht entziehen. Niemand belächelt ihn mehr. Sie spüren, dass da etwas ganz Besonderes mit Patricio passiert, das ihnen noch nicht begegnet ist. Die Aura um Patricio zieht alle in ihren Bann und lässt eine verschworene Brüderlichkeit zwischen ihnen entstehen. Die Mädchen und Jungen sehen ihn jetzt anders, sie gehen behutsamer miteinander um und verhalten sich teilweise sogar liebevoll ihm gegenüber. Es ist, als wäre er die zentrale Figur der Klasse, seine tief empfundenen Gefühle für Alina scheinen nicht nur ihn verändert zu haben.
„Hast du diese Aufgabe alleine geschafft?“, fragt Hanna Hansen ihn einmal. „Alina hat mir geholfen“, gibt er stolz zurück. Niemand lacht oder macht eine abschätzige Bemerkung, im Gegenteil. „Er möchte die Realschule erreichen, wir wollen ihm helfen“, äußert sich ein Mädchen. „Wir halten ihm alle den Daumen.“ Auch Alina kann sich dem Sog solch aufrichtiger Gefühle immer weniger entziehen. Sie ist dankbar für die Aufmerksamkeit, die er ihr schenkt und freut sich über die Fortschritte, die er macht. „Du schaffst es!“ macht sie ihm Mut und er strengt sich an, dass alle staunen.
Der letzte Schultag. Zeugnisse sind ausgeteilt. Die Kinder blättern in der gemeinsam gestalteten Klassenzeitung, in der sie Geschichten aus den letzten zwei Jahren zusammengefügt haben. Die Kinder lesen. Man hört zwischendurch Kichern oder Auflachen. Schweren Herzens gehen sie auseinander, verabschieden sich, teilweise mit Umarmungen, vergiss mich nicht, melde dich. Patricio hat die Realschule geschafft.
Als die Kinder schon längst das Schulgebäude verlassen haben, betritt Alina traurig noch einmal das Klassenzimmer. In den Händen hält sie zwei Teile eines Blattes.“ Patricio hat mir einen Brief geschrieben und jemand von der Klasse hat ihn mir weggenommen. Dabei ist er zerrissen.“ „Das ist kein Problem, wir gehen zusammen ins Lehrerzimmer und kleben ihn wieder zusammen.“
Hanna Hansen lächelte und schaute in die Augen des Taxifahrers im Rückspiegel. Sie hatte ihn erkannt. Immer wieder war sein Blick auf sie gefallen. „Patricio“, sagte sie, machte eine Pause, während sie in die Augen im Spiegel sah. „Das ist lange her, dass du mein Schüler warst. Und nun fährst du mich nach Hause. So ein schöner Zufall.“
Vor Hanna Hansens Haus angekommen blieben sie und Patricio noch lange im Taxi sitzen. Er erzählte von sich, von seinem kleinen Unternehmen für Farben und Lacke und seiner Ausbildung zum Paintballtrainer, seinem kleinen Sohn und seiner Frau, frischte Erinnerungen aus seiner Schulzeit auf. „Taxi fahren ist gut, seit zwei Jahren mach ich das, ein prima Job. Und nun habe ich Sie getroffen, hat sich gelohnt“ und lachte das selbe Lachen, an das sie sich so gut erinnerte. Sie verließ das Taxi. Alles Gute für dich. Auf Wiedersehen irgendwann und Tschüss.
Patricio wartete noch, bis sie im Haus verschwunden war.
Lächelnd setzte er seine Fahrt fort.
Helga Osswald-Ludwig