Aus der Kindheit in den Fünfzigerjahren: Frau Madijec

Ulrike Frank

„Frau Maditscheck raucht Pfeife…“. Für die Dörfler Grund genug, dass sie eine Fremde blieb, mit niemandem verwandt, kaum mit dem schnauzbärtigen Bayer, der ihr Mann war. Denn weshalb hieß er Madijec als ein Deutscher, während doch die Frau aus der Tschechei kam, wo der Klang dieses Namens zu Hause ist?

Ich bin diesem Rätsel nicht nachgegangen, für das Kind gab es jedoch keinen Zweifel, dass der Name ihr gehörte wie die Pfeife. Ihm gehörten das Fahrrad und die Angelrute, die kleinen Weißfische aus dem Rhein, die er in der gemütlichen Wohnküche röstete. Beiden gehörten das winzige blitzsaubere Haus, der große reichhaltige Garten, die beiden Ziegen und der Handwagen, in dem sie das an Wegrändern gemähte Gras einbrachten.

Wie aber war es dazu gekommen, dass ich, das „Fegnest“, das meist nach Belieben umherschweifte, jederzeit hineinschlüpfen durfte in den Garten und das Haus der beiden alten Leute? Dass man mich festbannte auf Gartenbank oder Küchensofa mit dem Versprechen, bald, bald von „Aladin und der Wunderlampe“ zu erzählen? Der magische Titel erfüllte die immer wieder verlängerte Wartezeit mit leuchtenden Vorstellungen, bis ich eines Tages begriff, dass Frau Madijec, die keine Bücher besaß, den Inhalt des Märchens vergessen hatte. So gab ich mich zufrieden mit jenen Geschichten, die das Leben geschrieben hatte … Seltsam genug.

Lose Fäden aus den Erzählungen des Ehepaars und den spärlichen Mitteilungen meiner Mutter und Geschwister schoben sich wie von selbst ineinander, und schon früh, spätestens mit Schulbeginn, war ich zu der Überzeugung gekommen, das wahre Band zwischen der Tschechin und meiner unbedeutenden kleinen Person zu kennen: Es war das Gute selbst. Frau Madijec hatte es getan in einer Vergangenheit, die vor meiner Erinnerung lag. Sie allein hatte es getan, so wie sie allein und zum Missfallen aller Pfeife rauchte. Als mein Vater gefallen war, bevor ich, das siebte Kind, geboren werden sollte, als der halbwüchsige Flakhelfer aus dem Lazarett Diphterie nach Hause gebracht hatte, als der zwölfjährige Ulrich und die vierjährige Rotraud daran sterben mussten, da sperrte die „Ortsgruppenleitung“ den Weg zu unserem abgelegenen Haus mit einem Schild: “Ansteckende Krankheit. Durchgang verboten.“ Frau Madijec war hindurchgegangen um zu helfen, warum? Darum, weil sie es für das Richtige hielt.

Weil ich, als vaterloses Mädchen zur Welt gekommen war in jener finsteren Zeit, die gleichwohl das Gute nicht hatte ganz auslöschen können, deshalb war ich ein stets willkommener Gast bei den beiden Alten. Und deshalb hatte ich jenes Versprechen geben müssen, das älter war als mein Gedächtnis: Madijec’s zu meiner Hochzeit einzuladen. Ich stellte mir dieses festliche Ereignis vor in einer sehr fernen und besseren Zukunft und hatte nichts einzuwenden. Nur manchmal erwägte ich zaghaft, wie unvorstellbar alt die runzlige Tschechin dann wohl sein müsse. Ich liebte sie nicht, wie ich etwa die sanfte junge Gemeindeschwester liebte; dazu war alles zu fremd: die hart ausgesprochenen kurzen Bemerkungen über das Leben, das ewige Zanken zwischen Mann und Frau und natürlich das Pfeiferauchen, das mich immer wieder in einen kleinen Taumel versetzte.

Eines Tages trat etwas nie Dagewesenes ein: Meine Mutter machte alleine eine Reise. Ich sollte für eine Nacht bei Madijec’s bleiben. Die schmale Kammer zwischen Wohnküche und Schlafzimmer war mir als Schlafgemach zugedacht. Auf dem Sofa dieser einzigen, stets unberührten Stube wohnte ansonsten eine Puppe, ein sehr großer Knabe mit blondem Pagenkopf, dessen rosenrote Lippen aus einem feinen Porzellangesicht lächelten. Nie hätte ich verlangt, mit diesem Heiligtum zu spielen. Betrachten durfte ich es und zuweilen seine kühlen Wangen und Hände berühren. Frau Madijec erzählte mir dann jedes Mal aufs Neue, diese Puppe gehöre einem Mädchen, das früh seine Mutter verloren habe. Ich kannte dieses Mädchen als eine muntere verheiratete Frau, die wohl von ihrem Besitz nichts ahnte, denn Frau Madijec hatte es nicht über sich gebracht, das am offenen Grab geleistete Versprechen zu erfüllen. Gleichwohl sah sie die Puppe nicht mehr als ihr Eigentum an und den Zeitpunkt des Gebens nie anders als aufgeschoben. Innerlich tadelte ich sie zuweilen für diese zweideutige Haltung, viel öfter aber fürchtete ich mich davor, sie plötzlich des Engelsknaben beraubt zu sehen und für immer vom Gewöhnlichen umgeben.

In jener Nacht teilte die Puppe die Schlafstube der beiden Alten, während ich auf das Kanapee gelagert wurde. Ungewohnt, abends nicht ins eigene Bett zurückzukehren, hatte ich mit Schwermut und Langeweile zu kämpfen. Am anderen Morgen war mir alles viel fremder als sonst, wenn ich als freier Vogel zu Besuch gekommen war. Früh schlich ich mich an den Küchentisch, wo ich untätig verharrte, bereits von Heimweh erdrückt. „Sag mal Prag“, sprach mich, munter hereintretend, Herr Madijec an. Ich kam der befremdlichen Aufforderung nach, allerdings ohne den beabsichtigten Erfolg. Hatte man mir doch zeigen wollen, dass ich heimlich Zucker genascht und daher den Mund nicht aufmachen konnte. Trotzdem hielten beide, Mann und Frau wie selten einig, an ihrem Verdacht fest. Freundlich Verzeihung in Aussicht stellend, mahnten sie, das kleine Vergehen zu gestehen. Alle Widerrede half nicht.

Das war ich nicht gewöhnt und ich lief aufgebracht davon, nach Hause, nur nach Hause! Doch auch dort war keine Zuflucht, denn bald tauchte Frau Madijec auf, meiner Mutter den Fall berichtend. Diese, auf die Ehrlichkeit ihrer Kinder stolz, äußerte Zweifel. Doch sprachen Indizien wie verschütteter Zucker neben der Dose gegen mich.

Nur halbwegs überzeugt, aber geneigt, den Anklagen ein Ende zu machen, wandte sich Frau Madijec schließlich mir zu: „Nu nu, wir kommen ja doch zu deiner Hochzeit“. „Dann werf ich Sie raus!“, schleuderte ich ihr, heiß vor Zorn, entgegen. Und im Bewusstsein, aussichtslos ins Unglück verstrickt zu sein, ging ich weg. „Was hast du getan“, sagte meine Mutter später, „Frau Madijec hat geweint, geh, lauf und entschuldige dich!“

Ich rannte ihr nach, wissend, dass ich unfähig sein würde, ein Wort der Entschuldigung zu formen. Weil ich niemals gelernt hatte, zu bitten. Weil man meiner Unschuld nicht glaubte. Und weil der Traum verloren war, der Traum von der Belohnung der guten Tat durch ein Fest am Ende des Märchens.

Doch da sah ich, dass Frau Madijec wirklich weinte. Und ich fühlte mich geliebt, einzig um meiner selbst willen. Da kamen auch mir die erlösenden Tränen, und Vergebung stellte sich ein, jenseits aller Taten und Worte.

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