Das Glück des rechten Alterns, nicht nur für Bäume

Sabine Keller

 Kunstmärchen

„Zum OEG Bahnhof in Schriesheim, bitte“, lächelt die ältere Dame mit dem kleinen blauen Hut auf ihrem violett-weiß-glänzenden Haar den Taxifahrer an. „Ach und entschuldigen Sie, würde es Ihnen etwas ausmachen, im Radio den Sender Bermuda Funk einzuschalten? Da läuft jetzt gleich die Sendung „Märchen am Nachmittag“ und die höre ich wirklich gerne.“

 

„Was immer Sie wünschen, der Fahrgast ist bei mir noch König oder in Ihrem Fall Königin“, dabei zwinkert der südländisch aussehende Taxifahrer, der trotz des warmen Wetters einen grün-lila Schal um seinen Hals gebunden hat, seinem Fahrgast zu und schaltet das Radio ein:

 

Sie hören jetzt aus der Sendereihe „Märchen am Nachmittag“ das Kunstmärchen „Das Glück des rechten Alterns, nicht nur für Bäume“. Wir wünschen Ihnen eine gute Unterhaltung.

 

„Es ist gar nicht so leicht zu altern“, flüsterte die alte Weide ihrer noch im ersten Grün stehenden Birkenschwester zu. „Es bedeutet nicht einfach, die Jahre an sich vorbeiziehen zu lassen, viel mehr, es ist eine Kunst. Aber wie solltest du das wissen, du bist ja noch so jung, das Grün sticht dir ja noch aus dem Stamm hervor.“

 

„Aha“, wunderte sich die in vollem Saft stehende Birke, ihre jungen grünen Triebe gen Himmel streckend, „ist es denn möglich falsch zu altern? Ich habe gehört, dass es einfach kommt, ob man bereit ist oder nicht, die Blätter welken lässt, den Stamm dicker und starr macht, bis er schließlich eines Tages bricht oder einem die Wurzeln abfaulen. Ich dachte, es zieht uns durch die Jahreszeiten in einem fort, ohne dass wir etwas dagegen tun können. Mit der Zeit wird jeder Winter beschwerlicher, unser Holz trocknet aus und wird spröde im Sommer. Gegen die wilden Herbststürme können wir uns nicht mehr wehren und nicht nur unser Laub, mehr und mehr Äste reißen sie mit sich. Nur der Frühling verheißt weiterhin die Zeit des Aufbruchs und erinnert uns an unsere einstige Jugend zurück, während wir still dahinwelken und Stück um Stück verfallen.“

 

„Du weist viel für dein zartes Alter, bist du doch gerade erst einem Birkenkätzchen entsprungen, aber das Wichtigste hat man dir wohl nicht erzählt. Die Weisheit auf die rechte Weise zu altern ist nur wenigen bekannt, leider ist diese Kunst nicht nur bei den Menschen, sondern auch bei uns Bäumen in Vergessenheit geraten.“

 

„Was willst du damit sagen? Kennst du die Kunst zu altern und kannst du mich darin unterrichten? Wie hast du davon erfahren?“

 

„Das sind viele Fragen für so ein junges Gemüse wie dich. Ich war damals selbst noch ein ganz junger Baum, kaum hatte ich fünf Mal die Leiden des frostigen Winters überdauert, seit ich aus einem Weidenzweig, den ein Wanderer hier eingesteckt hatte, entsprungen war. Damals gab es hier ringsum kaum Leben, sumpfiges Grasland und hie und da an den trockeneren Stellen ein paar Ginsterbüsche, ich war der erste Baum soweit ich blicken konnte. Unerfahren wie ich war, ließ ich die ersten Jahre so an mir vorüberziehen, erfreute mich des Sonnenscheins und reckte meine Triebe so gut es eben ging. Ich saugte so viel Wasser und Nährstoffe aus dem Boden, dass mein Stamm schnell wuchs und ich größer und größer wurde. Da ich keine Vergleichsmöglichkeiten hatte, hielt ich mich bald für das größte Geschöpf unter der Sonne. Um die Nachmittagszeit, wenn die Sonne längst über ihren Zenit hinausgewandert war, dehnte sich mein Schatten am weitesten in die Ebene hinaus und wenn ich ihm mit dem Blick folgte, hatte ich das Gefühl, er würde sich bis in die Unendlichkeit hin verlängern. Das erfüllte mich mit Stolz, es war, als ob ich unbesiegbar gewesen wäre. Als ich einmal wieder so meinen Schatten betrachtete, sah ich plötzlich, wie ein sonderbares Wesen ganz in der Ferne auf meinen Schatten trat und dann direkt auf mich zu stampfte. Plötzlich war ich vor Wut außer mir. Wie konnte dieses namenlose Etwas es wagen, auf meinen Schatten zu trampeln! Und schlimmer noch, ich konnte gar nichts dagegen tun. Hilflos, voller Wut und Traurigkeit, musste ich mit ansehen, wie dieses Wesen sich immer weiter auf meinem Schatten näherte, ohne mich jedoch zu beachten. Seine Gestalt war nur undeutlich auszumachen, da es sich, konstant auf meinem Schatten wandernd, auf mich zubewegte. Als es endlich direkt vor mir zum Stehen gekommen war, fing es an sich zu recken und zu strecken, rollte sich dann zusammen und schlief tief und fest ein. Fassungslos starrte ich diesen seltsamen Ankömmling, der so gar keine Notiz von mir und meiner Größe zu nehmen schien, an und überlegte mir, was ich wohl als Nächstes tun könnte. Ich betrachtete es genauer und bemerkte, wie seine Bauchdecke sich durch seinen Atem hob und senkte. Es war nicht besonders groß, hatte ein struppiges, graues Fell und lange Barthaare. Ich hatte viel Zeit es zu studieren, denn sein Schlaf war lang. Als es endlich aufwachte, blinzelte es mir zu, erhob sich und mit einer tiefen Verbeugung sprach es: ‚Ich danke dir für die Gastfreundschaft, die du mir in deinem Schatten schon auf der langen Wanderung hierher und nun auch meinen tiefen erholsamen Schlaf schützend, gewährt hast. Dank deiner bin ich nun wieder ganz erholt und werde meine Reise mit neuer Kraft fortsetzen können.‘ Ich war wie erstarrt, mit allem hatte ich gerechnet, mich schon in Gedanken auf eine lange Schimpftirade vorbereitet, doch mit einem Mal war meine Wut völlig verflogen. Der Ankömmling schien etwas von meiner Verwirrung und meinen Gedanken zu spüren. Er lächelte mich verschmitzt an, zwinkerte noch einmal und sagte: ‚Weil du so gut zu mir warst und mich so großzügig bei dir empfangen hast, will ich dir noch ein Geheimnis anvertrauen, denn ich sehe wohl, dass du der einzige Baum weit und breit bist und auch sonst wenig Leben um dich her gedeiht. Höre auf meine Worte, noch bist du jung und voller Kraft, kannst dich mit allem messen und dir wahrscheinlich nicht einmal vorstellen, dass sich das ändern könnte. Doch die Zeit wird kommen, da deine Kräfte schwinden und dein starker Stamm brüchig und schwach sein wird. Es wird dir immer schwerer fallen, dich gegen die Stürme zur Wehr zu setzten und irgendwann, wenn du es nicht erwartest, werden dich deine Wurzeln nicht mehr im Boden halten und du wirst fallen. Nun höre, ich werde dir hier das Geheimnis des rechten Alterns verraten, sodass du ganz leicht in diesen Zustand des Verfalls hinübergehen kannst, ohne Bedauern, ohne Angst, denn dieses Geheimnis kann noch mehr, es kann dir helfen ewig zu leben.‘ Gebannt lauschte ich seinen Worten, hatte ich doch gerade erst durch sein Zutun die Grenzen meiner Macht kennengelernt. ‚Eigentlich besteht die Kunst des rechten Alterns aus Zweierlei, die erste Lektion hast du schon gut gelernt. Sie besteht darin, welchen Nutzen unsere Existenz für andere Wesen hat. Dank der Größe deines Schattens wurde meine beschwerliche Reise für eine Zeit zu einer Erholung. Du hast mein Leben positiv verändert. Die Bedeutung unserer Existenz und die Zufriedenheit, die wir im Leben erlangen, hängen von unserer Bereitschaft ab, für andere Wesen da zu sein und ihr Leben zu bereichern. Und denke bitte nicht, dass es einen Unterschied zwischen kleinen und großen Diensten gäbe. Du hast vielleicht keine Ahnung, was eine kleine Geste wie die Zurverfügungstellung deines Schattens für mich und mein Leben bedeutete. Jetzt komme ich zum zweiten Teil, der Kunst unsterblich zu werden.‘ “

 

Die alte Weide hielt auf einmal in ihrer Erzählung inne und beugte ihre Äste in Richtung ihrer jüngeren Schwester. „Na, hast du schon eine Ahnung, worin dieses Geheimnis bestehen könnte? Blicke nur einmal recht um dich, siehst du die ganzen Weidenbäumchen, die hier am Ufer des Sees stehen? Und wenn du ein Stück den Weg entlang blickst, kannst du die kleinen Zäune aus Weidenzweigen um die Behausungen der Menschen ausmachen, die voll in ihrem Grün stehen? Das alles sind meine Geschöpfe, ich habe sie geschaffen und in ihnen lebe ich weiter. Was du in deinem Leben mit deiner Kreativität erschaffst, wird dich überdauern und du lebst darin fort.“

 

 

 

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