Heide-Marie Lauterer
Es war einmal, dass ein kleines Mädchen ein Brüderchen bekommen sollte. Das Mädchen lebte froh und zufrieden bei ihren lieben Eltern und wurde von ihrer Großmutter mit süßen Speisen, Marsriegeln und Märchen verwöhnt und ein Brüderchen fehlte ihr gerade noch zu ihrem Glück. Weihnachten nahte, das Fest der Liebe, und da lag es nahe, dass sich die Mutter aufmachte, um das Brüderchen zur Welt zu bringen. Die Großmutter rief den Mann mit dem grün-lila Schal und er fuhr die Mutter in seinem Taxi fort. Das Mädchen wartete und wartete, aber die Mutter brachte das langersehnte Geschenk nicht nach Hause. Tag um Tag verging und das Mädchen machte sich so ihre Gedanken. Dann kam die Mutter endlich wieder, doch statt des Brüderchens brachte sie ein dickes, in Watte gepacktes Bündel, das sie gleich in einen Glaskasten legte. Tag und Nacht wachte die Mutter bei dem Kasten und wenn sie einmal zum Einkaufen ging, setzte sich die dicke Großmutter an die Seite. Das Schwesterchen war nicht dumm und sie verstand, dass mit diesem Brüderchen irgendetwas nicht stimmte. Vielleicht war das Wesen, das da im Kasten lag gar kein Menschenkind? Und gab ihr nicht alles, was sie sah, recht? Das Brüderchen sprach nicht und aß auch nicht, es schrie, so wie nur böse, ungezogene Kinder schreien und trank etwas, das aus der Mutter floss. Wenn die Mutter das Brüderchen badete, schlich sich das Schwesterchen herzu, um es zu betrachten. Und wie sie so dastand, wurde ihr auf einmal klar, dass mit dem Brüderchen etwas nicht stimmte. Denn unterhalb der Körpermitte hatte es einen Rüssel, der manchmal aussah wie ein ekliger schwabbeliger Wurm und dann wieder wie ein Röhrchen. Auf einmal wusste das Schwesterchen, warum das Brüderchen so schrie und machte sich große Sorgen. Der Wurm sagte ihr, dass das Brüderchen verhext war und dass es sich furchtbar quälen musste.
Eines Tages, als das Brüderchen unbeobachtet auf dem Bette lag, schlich sich das Schwesterchen herzu und versuchte den Wurm herauszureißen, um das Brüderchen von seinen Schmerzen zu befreien. Doch das Brüderchen wehrte sich, das Schwesterchen bekam nur seinen kleinen Finger zu fassen und biss ihn ab. Das Schwesterchen steckte den Finger in ein Kästchen und hängte ihn sich um den Hals. Die Mutter aber merkte nichts davon, denn sie war auf einem Auge blind und sie hörte schlecht. So vergingen die Tage in Leid und Quälerei und es wurde immer schlimmer. Seit der Ankunft des Brüderchens hatte sich das Glück des Schwesterchens in Unglück verwandelt und selbst das Wünschen, das in den Märchen immer hilft, half ihr nicht mehr.
Weil die Großmutter sah, dass das Schwesterchen immer trauriger wurde, las sie ihr jeden Abend ein Märchen vor. In einem Märchen war von einer Prinzessin die Rede, die ihre goldene Kugel verloren hatte. Da fühlte sich das Schwesterchen verstanden, denn auch sie hatte alles verloren, was golden war. Und ein dicker, glitschiger Frosch hatte ihre schöne goldene Kugel aufgefangen – war doch das Brüderchen, wenn es aus dem Bade kam und quäkte, auch so ein dicker, glitschiger Frosch. Begierig wartete das Schwesterchen darauf, wie das Märchen ausginge, aber die Großmutter las jeden Abend nur ein kleines Stück weiter und sie hörte da auf, wo die Prinzessin dem Frosch ein Versprechen gab. Und was für ein Versprechen! Dass er von ihrem Tellerchen essen und in ihrem Bettchen schlafen dürfe, wenn er ihr nur die goldene Kugel wiedergäbe. Am liebsten hätte Schwesterchen der Prinzessin zugerufen: Du dumme blöde Gans – wie kannst du dem Frosch so ein Versprechen geben? Er ist doch verhext und Verhexte behandelt man nicht wie ein Mensch! Wenn die Großmutter das Licht gelöscht hatte, fieberte das Schwesterchen dem nächsten Abend entgegen, auf dass die Großmutter das Märchen weiterläse, denn noch immer hoffte sie auf ein glückliches Ende. Doch es kam, wie es kommen musste: Der Frosch kam mit der goldenen Kugel und bestand darauf, dass die Prinzessin ihr Versprechen hielt, doch die Prinzessin ekelte sich vor ihm und begann zu weinen. Niemand half ihr und sogar der Königsvater verlangte, dass die Prinzessin den Frosch in ihrem Bettchen schlafen ließ.
An dieser Stelle verstummte die Großmutter, es half kein Bitten und Betteln und am nächsten Abend kam die Großmutter überhaupt nicht zum Vorlesen. Das Schwesterchen vermutete ein Komplott, denn sie hatte Mutter und Großmutter flüstern sehen, was gewöhnlich nichts Gutes bedeutete.
Am übernächsten Abend kam die Großmutter wieder und begann ein anderes Märchen zu erzählen, es hieß: ‚Brüderchen und Schwesterchen‘, doch dieses Märchen war nicht nach dem Geschmack von Schwesterchen. Was sollte sie mit einem Märchen anfangen, in dem sich das Brüderchen in ein Rehlein verwandelte? So etwas hätte ihr gerade noch gefehlt! Drei Abende hielt sie es noch aus, dann wuchs ihre Wut ins Unermessliche. Es wuchs aber auch ihre Sorge um das Brüderchen, das jedes Mal, wenn es gebadet wurde, herzerweichend schrie, weil der Wurm zwischen seinen Beinchen mit jedem Tag größer wurde. Am vierten Abend besann sich das Schwesterchen auf eine List. Sie tat so, als ob sie eingeschlafen wäre, wartete bis die Großmutter das Zimmer verlassen hatte und schlich sich im Dunkeln in die Kammer des Brüderchens. Sie nahm das Bündel heraus, holte einmal tief Luft und dann schleuderte sie es, so fest sie konnte, an die Wand. Sofort hörte das Schreien auf und die Watte fiel herunter. Es herrschte eine himmlische Ruhe, was für eine Erleichterung nach all dem Geschrei! Doch wie erstaunt war das Schwesterchen, als sie vor sich einen wunderschönen Prinzen stehen sah, der sie liebevoll anlächelte. Ist das vielleicht das Brüderchen, nach dem ich mich immer gesehnt habe? Sie fühlte ihr Herz wild klopfen und wollte ihn herzen und küssen, da dachte sie: Irgendetwas stimmt hier nicht! Ich bin doch sein Schwesterchen – oder etwa nicht?
Und wie es so in der Wirklichkeit ist, ist es natürlich auch im Märchen: Kaum hat man das eine Problem gelöst, steht schon das nächste vor der Tür!