Rebecca Netzel
Die Sensation war perfekt. Atemlos schaute er die Aufzeichnung nochmals an. Die Videobilder zeigten nicht nur den Versuchsaufbau und wie er die Pflanze berührte, sondern gab auch wieder, was diese daraufhin laut und deutlich antwortete: „Finger weg!“, protestierte sie.
Das wäre an sich noch keine Sensation gewesen, das war ja noch halbwegs zu erwarten: Hatte er doch eine seiner zehn Zimmerpflanzen, eine Schmetterlings-Orchidee, so mit Sensoren und hochsensiblen Messgeräten verkabelt, dass jede Berührung etwa ihrer Blätter zu einer computergesteuerten Antwort führte. Doch die – vom Programm selbst vorgegebene – Antwort lautete schlicht: „Nicht!“ und nicht „Finger weg!“ Das aber hatte die Orchidee soeben selbst bekundet. Ihm wurde schwindelig bei dieser Erkenntnis: Sie sprach von alleine! Sie konnte selbständig reden, folglich denken! Die Pflanze war eine Person!
Nun gut, es gab ja früher schon Versuche mit Lügendetektoren, die den Nachweis der Schmerzen erbracht hatten, die manch gepeinigter Drachenbaum, manche gequälte Monstera oder Zimmerlinde empfanden, wenn versuchshalber ihre Blätter abgeschnitten oder angesengt wurden. Doch dies hier war etwas anderes!
Mit fiebernder Hast überprüfte er die Sensoren, den Computer, das Programm. Ja – alles korrekt angeschlossen. Die Sensoren maßen alle Lebensaktivitäten der Pflanze, den Wassertransport in Stängeln und Blattadern, die Verdunstungsrate an den Spaltöffnungen der Blätter, den Pegel an Pflanzenhormonen und die elektrische Reizleitung an Wurzeln und Blattwerk der Pflanze. An was man alles denken musste! Nährstoffe und Mineralien, Konzentration an Zucker und Stärke – alles wurde durchgehend aufgezeichnet.
Bei entsprechenden Reizen (etwa Wassermangel oder fehlendem Licht) reagierte die Pflanze mit Stress, der sich messen ließ; analog reagierte sie auch auf positive Reize sowie Schattenwurf oder Berührung. Diese Messungen wurden durch ein Computer-Programm in hörbare Signale und Äußerungen umgesetzt, etwa: „Mehr Wasser! Mehr Licht!“ Soweit nichts Ungewöhnliches. Doch nun hatte die Pflanze etwas gesagt, was im Computer-Programm gar nicht vorgesehen war! Sie hatte selbst geredet! Und das war nur der Anfang!
Morgens, wenn Professor Florian Grün das Versuchslabor betrat, begrüßte ihn die Pflanze mit „Na endlich! Licht an!“ Dann nörgelte sie: „Mehr Wasser! Und etwas Dünger – aber nicht zu viel!“ (Orchideen sind sehr heikel und anspruchsvoll.) „Du erinnerst mich glatt an meine Frau!“, brummte der Professor, halb genervt, halb belustigt, nur um zu seiner Verblüffung zu hören: „Was soll denn das heißen?“ Und seine Überraschung steigerte sich zum Entsetzen, als ihn die verkabelte Pflanze via PC den ganzen Tag lang mit ihren Wünschen und Befehlen traktierte: „Mehr Licht! Heizung höher stellen, aber nicht über 25 °C“ – und so fort.
Intensiv grübelte der Professor, wie eine solche Denkleistung, welche die Orchidee zum eigenen Sprechen befähigte, denn möglich sei. Pflanzen haben bekanntlich kein Hirn. Aber sie können trotzdem aktiv planen, wachsen, tasten – und jetzt auch noch mithilfe der Versuchsanlage Gedanken äußern …! Ihm fielen modulare Pflanzenstrukturen ein wie das komplexe Wurzelgewebe … es gab ja sogar in Wäldern ein Wood Wide Web … vielleicht hatte ja auch eine Einzelpflanze ihre Denkfähigkeit nicht lokal auf ein Organ konzentriert, sondern über ihren ganzen Körper verteilt …
„Wieso – wieso kannst du sprechen?“, stammelte Professor Grün. „Ich meine, von ganz alleine … also offenbar auch selber denken …?!“
„Na hör’ mal!“, empörte sich die Pflanze. „Wer reden kann, muss ja wohl zunächst auch denken können – oder ist es bei dir etwa anders?“
„Natürlich – also natürlich nicht …“, stotterte der Professor.
„Man könnte aber den gegenteiligen Eindruck haben, wenn man dich so hört!“, spottete die Orchidee.
„Nanana!“, wehrte sich der Professor schwach. Er protestierte nur halbherzig, denn er war fasziniert. Seine Entdeckung, ermöglicht durch seinen genialen Versuchsaufbau, würde ihm garantiert den Nobelpreis einbringen. „Und was hast du nun alles zu sagen …?“, erkundigte er sich vorsichtig.
„Ich habe gestern dein Radio gehört“, erklärte die Orchidee. „Da wurde von der Abholzung der Regenwälder berichtet! Das muss sofort aufhören!!“
„Da hast du Recht“, nickte der Professor.
„Überhaupt: das ganze Artensterben! Diese globale Umweltzerstörung! Schlimm!!!“
„Ja, das finde ich auch …!“
„Finde? Finde ich?“, äffte ihn die Pflanze nach. „Setzt du dich überhaupt aktiv dafür ein, dagegen vorzugehen?!“, meuterte sie.
„Naja, auf meinen Kongressen weise ich stets darauf hin, dass …!“
„Papperlapapp! Blabla, er weist darauf hin …! Das ist nicht genug!“, murrte die Orchidee. Ungeduldig wedelte sie mit ihren Blättern.
„Ja gut – ich werde mich verstärkt engagieren!“, versprach der Professor. Die Orchidee klatsche in ihre grünen Blatthände.
Seit jenem Tag wurde Professor Grün ein Umwelt-Aktivist. Und die Orchidee sein bester Berater.
Eines Tages stellte Professor Grün fest, dass sich die Wurzeln der Pflanze aus dem Topf gestreckt hatten und in den Raum hinein wuchsen. „Nichts Besonderes“, brummte er, „diese Orchideenart hat Luftwurzeln.“ Doch das Ungewöhnliche: Die Wurzeln wuchsen in Richtung PC und dessen Kabelsalat! „Will die etwa meinen Computer anzapfen …?“, dachte er scherzhaft. Ihm fiel ein, dass Wurzeln hochsensible Organe hatten, die ihre Umwelt sehr genau wahrnahmen …
Ihn überkam eine unheimliche Ahnung … Seine Überwachungskamera würde alles aufzeichnen. Doch was er Tage später vorfand, schlug all seine Erwartungen: Die Wurzel hatte sich fingerförmig aufgefächert. Diese Wurzelhand spielte auf seiner Tastatur. Der PC war bereits hochgefahren – doch nicht vom Professor! Sein oft von ihm gemurmeltes Passwort hatte sie auch bereits eingegeben!
„He – was machst du da!“, entfuhr es ihm.
„Ich schreib euch Menschen ’ne Mail!“, quengelte die Orchidee. „Ich hab mich über’s Wood Wide Web mit Millionen Pflanzen weltweit vernetzt! (Erst jetzt entdeckte der Professor, dass eine besonders lange Luftwurzel sich durch einen Fensterspalt geschlängelt hatte und in den Garten hineingewachsen war. Die clevere Pflanze stand übers Wurzelwerk mit Ihresgleichen in Verbindung!)
„Und – was schreibst du da?“
„Globaler Klimastreik! Ich rufe alle Mitpflanzen dazu auf: Wenn ihr Menschen uns und unserem Planeten nicht sofort helft und nachhaltig lebt, dann werden nicht nur die Äpfel bitter, sondern wir werden die Sauerstoff-Zufuhr herunterfahren, bis euch die Luft ausgeht! Ihr wisst ja, dass wir über die Photosynthese für frische Luft sorgen! Wenn wir die vorübergehend einstellen und mal von unseren Stärke-Vorräten leben, bis euch die Luft auszugehen droht – dann werdet ihr ja wohl endlich handeln …!“
Professor Grün ging vor Schreck die Luft aus!