Liebe in Jahrzehnten

Anna Stark

Ich sehe sie beide schon von weitem sitzen, dort oben in dem achteckigen Bussierhäusel, ein aus dünnen, geschliffenen Baumstämmen, wie ziseliert, gezimmerter Pavillon.

Er lehnt sich an die halbhohe Rückwand der darin umlaufenden Bank. Sie schmiegt sich von der Seite an ihn, ihre Beine quer über seine Oberschenkel ausgestreckt, und genießt, wie er zärtlich ihre Beine streichelt, von der Hüfte bis zum Knie und weich wieder zurück.

Ich setze mich, von den beiden unbemerkt, außerhalb des Häuschens auf eine Bank. Mein Blick schweift im Halbkreis ins Tal. Seltsam, wie unbeschreiblich schön die Natur dieses Jahr ist. Alle Obstbäume blühen gleichzeitig und in den Vorgärten die Frühlingsblumen in bunter Farbenpracht, rote Tulpen, blaue Hyazinthen, rosa Magnolien und gelbe Forsythien. Über mir ein strahlend blauer Himmel! Mir kommt es vor, als ob die Natur erleichtert aufatmet und sich entfaltet, weil dieser kleine, aber ungeheuer starke Virus Corona unsere sonstige Hektik und Geschäftigkeit ausbremst.

Meine Gedanken gehen fünfmal zehn Jahre zurück. Eng umschlungen saßen auch wir beide, mein Verlobter und ich dort drinnen in dem romantischen Bussierhäusel. Die Welt um uns war so friedlich und frühlingslau wie heute. Ich schmiegte mich unter seine schwarze Lederjacke, wie um in ihn, bis tief drinnen, hineinzukriechen.

„Ja, nur wir zwei hier, ganz allein“, unterbricht die Stimme des Mannes meine Gedanken. Er nimmt sie liebevoll in den Arm: „und wenn ich auf die Autobahn hinunterschaue und nur wenige Autos sehe und sie kaum noch höre, kommt es mir vor, als ob die Welt den Atem anhalten würde. Auch die Kühltürme des Atomkraftwerks sehen im leichten Nebel nicht so bedrohlich aus wie sonst. Und dort drüben auf dem Berg leuchtet das Dach der Wallfahrtskapelle so strahlend, als ob es uns mit seinem Glanz zum Triumph über den bedrohlichen, unsichtbaren Erreger ermutigen wollte.“

Kann dieser mir unbekannte Mensch meine Gedanken lesen?

„Stimmt, Liebling! Aber weißt Du, was mir Angst macht?“, höre ich dann die Frau sagen. „Schau mal auf das Hinweisschild dort drüben. Wir haben Freunde in allen unseren Partnerstädten in Frankreich, den USA, Polen und Portugal. Und unsere Verbundenheit mit ihnen machte vor Grenzen ebenso wenig Halt wie das gefährliche Virus, an dem Tausende von Menschen sterben und Ärzte und medizinisches Personal oft vergeblich um Menschenleben kämpfen. Aber jetzt sind die Grenzen dicht, und wir können selbst unsere Kinder in Porto und Krakau wegen der Kontaktsperre nicht besuchen. Das alles tut mir einfach weh. Ich habe Angst.“

Ich sehe, wie er zärtlich ihren Kopf in beide Hände nimmt, sich ihrem Mund nähert, sie innig küsst und tröstend sagt: „Solange wir uns haben, kann so ein Virus uns nicht zerstören. Wie sagte Ernest Hemingway: „A man can be destroyed but never defeated.“

„Ja, stimmt“, pflichte ich dem Mann gedanklich bei und erinnere mich, dass mein Mann und ich uns das auch sagten, als wir damals beschlossen, unser gemeinsames Leben in dem durch die deutsche Teilung bedrohten Berlin zu verbringen.

Die Frau dort oben kuschelt sich wieder an die Brust ihres Mannes.

Ich schaue wieder in die Ferne und sehe im Westen die nun in dichtem Nebel gehüllten Kühltürme des Atomkraftwerks. Wieder gehen meine Gedanken in die Vergangenheit. Vor zehn Jahren, als mein Mann noch lebte, saßen wir in Frankfurt am Flughafen fest und konnten unsere Freunde in Chicago nicht besuchen. Unser Flug war plötzlich storniert worden, nicht wegen Nebel, wie dort drüben. Nein, es war wegen der gewaltigen Wolkenschwaden von Vulkanasche, die von Island her den Himmel verfinsterten. Der Vulkan mit dem unaussprechlichen Namen Eyjafjallajökull war unter einem riesigen Gletscher von 1500 m Höhe ausgebrochen und hatte Asche mit dem darüber liegenden Eis in die Luft geschleudert. Es war das totale Chaos, 100 000 Flüge fielen aus, die Flugzeuge standen am Boden, genau wie jetzt. Vor 10 Jahren war es der Vulkanausbruch, heute ist es der Ausbruch der Pandemie Corona, der die Menschen zum Innehalten zwingt.

Ich war damals sehr enttäuscht und traurig, dass wir wieder nach Hause fahren mussten. Mein Mann aber nahm mich tröstend in seine Arme und sagte: „Solange wir uns haben, können uns solche Dinge nicht wirklich etwas anhaben.“

Nun haben wir uns nicht mehr. Ich stehe auf und werde nach Hause gehen.

Ich drehe mich um und schaue wieder hinauf zu dem Paar im Häuschen. Sie halten sich fest umfangen.

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