Mann im Glück

Grelles Scheinwerferlicht flutet über die Mauer bis in seine Kellerwohnung, Nacht für Nacht, Jahre lang.

Er wirft eine leere Bierdose hinüber. Schäferhunde an langen, rasselnden Ketten schlagen wütend an.

An einem Morgen findet er sein Atelier als schwarz ausgebrannte Höhle vor.

Niemand in der U-Bahn will seinem lauten, tapferen Gesang zuhören, schon gar nicht den unerwünschten Trompetenklängen.

Mit gefurchter Stirn blickt ihn seine Frau an:

„Ich muss Eier aufm Markt verkaufen, weils Geld nicht reicht. – Deine Söhne brauchen dich!“

Leuchtend traurige Augen tauchen aus der Dunkelheit auf.

Sein Vater zerknüllt mit übergroßen Händen das Zeugnis, zornig und enttäuscht von seinem Ältesten, und wirft es ihm vor die Füße.

Weiße Klinikräume blenden ihn und halten ihn gefangen. Eine Beruhigungsspritze! Ihr ausgeliefert, wehrt er sich und schreit auf.

Der Mann erwacht. Mühsam nur vermag er den schweren Traumsack wegzuschieben. Er tritt aus dem Zelt und stakst halbwach zum Bach. Frisches Wasser spült die letzten Fetzen seiner Träume fort.

Da wohnt einer. Sein bunt bemaltes Zelt hat der Wald schon fest in die Arme genommen und mit Moos eingekleidet. Wohlverborgen liegt es in einer kleinen Mulde, abgeschirmt von einem Wall aus Zweigen und Gestrüpp. Niemand kennt die Stelle. Doch allmorgendlich erklingt zur Begrüßung des Tages und aller Kreatur ein kräftiger Trompetenstoß von irgendwoher aus dem tiefen Gehölz. Der Mann sichert den Reißverschluss seines Zeltes mit einem marmeladeverkleisterten Löffel und macht sich auf den Weg.

„Du wohnst ja im Wald wie Pu der Bär!“ lachen gutmütig die Kinder, als er mit seinem Fahrrad in dem kleinen Weindorf auftaucht, um seine bescheidenen Vorräte aufzufüllen.

„Aber Pu der Bär wohnt doch gar nicht im Wald, sondern die alte Eule!“ lacht er zurück und fährt jodelnd weiter, auf seinem seltsam geschmückten Rad ein seltsam geschmückter alter, weißbärtiger Mann.

In seinem Werkstall und Winterquartier, einem einstigen Ziegenstall, hat der Waldmann heute zu tun. Er lötet, schweißt, schraubt, klebt und fügt Metallteile aller Größen und Formen, verbindet sie zum Teil mit Holz, Glas oder gar Plastik und Lumpen zu Geburten seiner Fantasie. Gerade arbeitet er an einem kleinkindgroßen Klabautermann aus lauter Blechdosen, der schon halb zum Leben erwacht scheint.

Die alte Nachbarin klopft an die offen stehende Tür und bringt einen ausgedienten Fleischwolf, auch Silberbesteck.

„Dankeschön! Morgen komm‘ ich und reparier‘ dir deinen Brotkasten!“

Die CD-geflügelten Eulen sind bereits fertig. Der Mann bringt sie zur nahen Waldlichtung und hängt sie in die Bäume. Hier hat er seine „Vieh-guren“ versammelt. Da wühlen kleine Monster und Gnome im Boden, ein Pfauenrad aus Gabeln mit aufgewickelten Zinken protzt im Gras. Enten, Gottesanbeterinnen, Schnecken und anderes Kleingetier aus gebogenen Löffeln, Gabeln und Glasstücken tummeln sich auf dem unbeaufsichtigten Verkaufstischchen. Die Armreife, Ketten und Ringe waren auch schon damals in der Großstadt besonders begehrt.

Die Morgensonne taucht alles in heiteres Licht. Zwei Radfahrer bleiben stehen und schauen herüber. Der Mann im Glück ermuntert sie näher zu kommen. Ihnen gefällt das Löffelentenpaar. Sie drücken dem Recyclingkünstler ein paar Münzen in die schwarz gegerbte Hand. Mehr nimmt er nicht. Er will die Menschen doch beglücken, keine Geschäfte machen!

Heute muss er seine Wiese noch einmal kurz verlassen. Eine seiner Schwestern hat ihren Besuch angekündigt. Er will wieder zurück ins Dorf, sie am Hoftor erwarten.

Die Schwester nimmt notgedrungen ein Taxi, denn der Bruder wohnt hinter den sieben Bergen, kein Bus fährt dorthin.

Der Fahrer, ein ansehnlicher Kerl mit Schnauzbart und, o wie eitel, grünlila Schal, kennt zu ihrer Verwunderung das Ziel: „Gross Kunst! Wie die Adress?“ Wahrscheinlich ein Türke oder sowas, denkt sie. „Berghofen. Hauptstraße 13. Bitte ohne Umwege!“

Sie ist eine sparsame Frau, und ein Taxi zu nehmen für sie der reinste Luxus.

Unterwegs durch blühende Landschaften stört es sie, dass der Mann so langsam fährt. „Geht’s nicht ein bisschen schneller!“

„Strass‘ schlecht.“ ist die knappe Antwort.

Ihr Bruder sitzt vor seiner Tür und springt lachend auf. „Hat das aber gedauert! Und bestimmt ein Vermögen gekostet. Willkommen, Schwesterchen!“

Der Taxifahrer steigt zu einer Zigarettenpause aus, lehnt an der Wagentür, geht noch ein paar Schritte, bevor er weiterfährt.

Der Frau kommt es so vor, als habe er gehinkt.

„Musstest du denn unbedingt ein Taxi nehmen? Der Bahnhof ist doch ganz in der Nähe!“ „Seit wann denn das?“ Sie ist etwas irritiert.

„Seit ewig schon,- vergessen?“

„In der Geschichte muss ein Taxifahrer vorkommen. Das hat die Schreibgruppe so vereinbart.“ Der Bruder greift vergnügt zur Trompete und bläst dem Fremden das Halali des Waldes hinterher.

„Muss eben alles in Klammern gesetzt werden, das mit dem Taxifahrer.“ Die Idee findet sie prima.

Sie wandern am Fuße der Weinberge zur Ausstellungswiese und setzen sich auf das morsche Gestühl. Von hier aus haben sie einen guten Überblick, während sie munter miteinander plaudern. Wanderer mit ihren Kindern treten näher, erstaunt über solch Zauberland am Waldrand, wurden von einem Mundharmonikalied herbeigelockt. Dort drüben stehen Bekannte und getrauen sich sogar, den Schrottesel am Schwanz zu ziehen. „Sieh nur, wie glücklich sie alle sind!“ jubelt der Mann im Glück und schickt einen Jodler über die Wiese. Ja, auch an diesem Wochenende scheint eine Wolke der Beglückung und Heiterkeit über der Lichtung zu schweben.

Als es ruhiger wird, tauchen zwei Unbekannte auf und erkundigen sich bescheiden, ob sie hier richtig sind. „Wir kommen im Auftrag des Südwestsenders. Dürfen wir um ein Interview bitten und einige Ihrer Skulpturen filmen?“ Und weil die Beiden ihm gefallen, geht er mit ihnen auf „Skulp-Tour“, unterhält sich lebhaft und liefert so manchen seiner skurrilen, selbst gereimten Sprüche. Auch diese Herren sollen erkennen, welch froher Mensch er ist, wie glücklich sein Leben hier auf dem Land!

Die Schwester begleitet er am Abend zur Bahn, schenkt ihr einen Gabelhahn.

Beide ahnen nicht, dass bald die besten Stücke von der Wiese verschwunden sein werden! Gestohlen von Halunken von weither. Das Fernsehen hat es möglich gemacht. Kein Dorfbewohner würde sowas tun!

Doch der Mann, der Waldmann, der Schrottkünstler, dieser Hans im Glück lässt sich nicht bestehlen. Er ist geborgen unter seinem wundersamen Schutzschirm!

 

Es kommt die Nacht. Der Wald atmet auf. Vom großen Fluss, aus den Bächen und Tümpeln hebt sich zarter Nebel. Es gluckert, plätschert, blubbert und gurgelt im Verborgenen.

Die Bauten der Kläranlage gegenüber dem Märchengrund gleichen nun fast einer mächtigen Burg.

Feenschleier wiegen sich über all den Geschöpfen, die sich jetzt von ihrem Schöpfer ausruhen und neu erwachen.

„Es lauscht der Teich mit offenem Mund, von ferne heult der Schluchtenhund.“ Der Morgenstern, entstanden aus einer aufgeschnittenen Konservendose, hat seinen Glanz verloren. Bläuliche Dunstschleier ziehen vom Klärbecken hinüber zum Wiesenvolk, auch leiser Geruch von Fäulnis und Trauer. Die Rührwerke verwandeln pausenlos schmutziges Wasser in klares, sauberes.

Drei Eulen klimpern leise mit ihren CD-Flügeln. Der Pfau paart sich mit dem mannshohen Holzstorch auf wunderliche Weise. Die Glasaugen des summenden Lumpen-Metall-Kindes drehen sich in eine Richtung: Ach, da hinten hinkt eine magere Schrottgestalt mit grünlila Schal, taucht unter im Nebelwald. Einige der Nachtwesen bewegen sich von der Wiese fort, verschwinden mit feinem Geklapper zwischen den Bäumen, tappen zielstrebig vorwärts. Sie umringen als Wächter das Zelt. Darin träumt der Mann im Glück heute helleren Traum. Der Nebel hat sich gehoben. Unendliche Stille und Dunkelheit breiten sich aus.

 

 

 

 

 

Gisela Hübner-Dross

 

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