„Oh, wie schön ist …” – Des Philosophen Weg-Gedanken

Pit Elsässer

Ich gehe, weil ich etwas Zeit mit mir alleine verbringen will, an diesem Sonntagmorgen

von der Bergstraße aus den steilen Anstieg zum Philosophenweg hoch. Ich spüre

schon zu Anfang, dass es ganz schön anstrengend sein wird, bis ich oben bin. Deshalb

schalte ich gleich runter in den Gang ,Nur nichts übertreiben’.

 

Auf der Höhe hoffe ich, ein bisschen Ruhe zu finden, um meinen Gedanken freien

Lauf zu lassen. Ich liebe es, den entfernten Sound einer erwachenden Stadt – meiner

Stadt – zu hören. Gerade die aus der Ferne herüberwehenden sonntäglich gedämpften

Geräusche lassen mich die Ruhe um mich herum noch stärker erleben.

 

Etwa zur Hälfte des Aufstieges taucht es zum ersten Mal auf. Aus der Ferne und von

oben kommend. Erst noch ganz leise, dann schnell anschwellend fliegt es an mir vorbei,

um wieder, leiser werdend, zu verschwinden.

 

„Schrib, schrab, schrib, schrab, schribel, schrab, schrib, schrab, schribel …“

 

Erstaunt schaue ich ihm nach, dem, der da mit großen, die Erdanziehung abbremsenden

Schritten, den steilen Berg hinabfliegt. Ein Jogger, ein nach den neuesten

Erkenntnissen der Sportbekleidungshersteller ausgestatteter Mensch. Mit hochrotem

Kopf, als hätte er eben die Abfuhr seiner Freundin erhalten, rennt er gehetzt dem erfrischenden Wasserstrahl seiner Dusche entgegen.

 

Versonnen denke ich so bei mir, ob ich nicht auch mal …?

 

Unwillkürlich ziehe ich meine Hände aus den Taschen, die ich dort genüsslich und

bequem geparkt hatte. Meine Arme jetzt leicht schwingend steige ich weiter den Berg

hinauf. Doch nach wenigen Metern merke ich, dass innere Haltung und äußere Bewegung

nicht zusammenpassen. Meine Hände flutschen wie von selbst wieder dahin zurück,

woher sie gekommen waren: „Also, ich bin doch nicht beeinflussbar!“

 

„Schrib, schrab, schriblschrabl, schrib, schrabelschribel, schriblschrabl, …”

Schon kommen die Nächsten im zeitlich versetzten Rhythmus den Berg herunter. Ein

junges Pärchen, sich während des Laufes in hektisch ausgestoßenen Wortfetzen unterhaltend. Bei jedem Schritt werden pressluftartig Wortfraktale in die Umwelt ausgestoßen. „Mein … Prof … is … n … kom … ischer … Kau … z … un … d … i … näch … ste

… Klaus… ur … wer … d … ich …” – und weg sind sie, so schnell, wie sie gekommen

waren. Ich gehe irritiert weiter und spüre, nach einem weiteren Talwärtsstürmer, langsam

ein Gefühl des Getriebenseins in mir. Gut, dass ich jetzt gleich oben bin – aber,

was ist das?

 

Ein kaum vernehmbares „Shrb, Shrb, Schb”, das, mich links überholend, langsam

und auf Zehenspitzen den Berg hoch an mir vorbeizieht. Nicht hektisch wie die anderen,

sondern in ganz kurzen Steppschritten und von leisen Atemstößen begleitet. Es ist

eine grauhaarige ältere Dame (etwa so alt wie ich!), in betont körpernahem Dress mit

schwungvollen, grellfarbenen Designapplikationen und auf samtweichen Sohlen.

 

Wow! Abermals wird mir ein Spiegel vorgehalten. Er will mir zeigen, wie falsch ich

mich bewege und dass meine Genießerhaltung an diesem Morgen völlig deplatziert zu

sein scheint.

 

Oben biege ich nach rechts auf die Eichendorff-Anlage ab, um hier die weltberühmte

und einmalige Aussicht auf Heidelberg zu genießen. Mein Blick kreist über die Stadt

und bleibt liebevoll an erinnerungsschwangeren Orten meiner Kindheit hängen.

 

Es ist kurz vor 10 Uhr und die Glocken der Heidelberger Kirchen rufen wie in einem

finalen Konzert die Gläubigen zum Gottesdienst, um am Tag des Herrn Gott zu loben

und ihm zu danken für – na ja, zum Beispiel auch für diese herrliche Stadt. Ich empfinde

es als Privileg und Glück, im Schatten des Schlosses geboren zu sein.

 

Meine Gedanken schwingen mit den Glockentönen ins Neckartal und in die Rheinebene

hinaus, bis sie wieder verklingen.

 

Mir schießt plötzlich der Kinderbuchtitel von Janosch in den Kopf „Oh, wie schön ist

Panama!” Aber hallo! So ein Quatsch – Panama? Heidelberg ist es und nur in Heidelberg

ist es „oh, wie schön!”

 

Ruhe! – Ruhe? Vor mir die erstarkten Geräusche der Stadt und hinter mir das immer

stärker anschwellende, vielfüßige „Schrib, Schrab, Schrib, Schrab …” Tatsächlich geht

es oben auf dem Weg mittlerweile zu wie auf einer Autobahn. Einzeln, paarweise und

in ganzen Gruppen rennen jetzt Menschen verschiedenster Nationalitäten, sich laut in

der schon erwähnten Pressluftsprache unterhaltend, in beide Richtungen den philosophischsten aller Wege entlang. Auch Mountainbiker und Skater bereichern jetzt immer mehr das Background-Orchester.

 

Ich wage den Versuch, mich in die Zeit Heidelbergs zurückzuversetzen, als an meiner

Stelle hier die großen Denker, Dichter und Philosophen saßen. Hinter ihnen auf dem

Weg naturliebende Menschen auf einem sonntäglichen Spaziergang. Die Kinder mit

Schmetterlingsnetzen in der Hand, den Geheimnissen der Natur auf der Spur.

 

Hier saßen einst die Geistesgrößen, um in der Stille über dem Neckartal ihre Gedanken

schweifen zu lassen. Neu sortiert, haben sie diese wieder eingefangen und daraus

etwas Großes gestaltet, von dem wir heute noch zehren.

 

Ich verlasse genervt diesen Ort, um einen ruhigeren zu finden. Ich wende mich einer

Stelle zu, die ich vor Jahren schon entdeckt hatte. Hier hat sich ein Liebespaar das

Versprechen fürs Leben gegeben. Zwei in Handarbeit gefertigte Herzen, in welche die

Anfangsbuchstaben ihrer Vornamen eingeschlagen sind und die sie mit einem Vorhängeschloss an einen Zaunpfosten angeschlossen haben. Welche Romantik, mit Blick auf diese Stadt, in der man sein Herz zu verlieren hat.

 

Hoffentlich haben sie den Schlüssel für das Schloss danach gleich im Neckar versenkt und nicht mit dem Hintergedanken eingesteckt, ihn, im Falle eines Falles, doch noch mal zu gebrauchen. Ich wünsche den beiden in Gedanken eine lebenslange Liebe, sodass sie noch im hohen Alter an den Ort ihres Versprechens zurückkehren und sagen können: „Ja, so war’s gemeint!“

 

Oh, wie schön ist doch die Liebe – bin ich nicht herrlich philosophisch?

 

Nachdenklich gehe ich weiter und komme an ein eisernes Gartentor, das zu einem

zum Neckar hin abfallenden Grundstück führt. Hinter dem Zaun steht eine überdimensionale,

silberfarbene, aufgerichtete Hand aus Kunststoff, die zu den Vorbeigehenden

und Hetzenden sagen will: „Stopp, nehmt euch Zeit!”

 

Auf dem Mittelfinger kriecht eine Schnecke mit ihrem Haus. Zufall oder gewollt?

Gewollt! Jemand hat mit einem schwarzen Filzschreiber etwas auf die Handfläche geschrieben. Ich gehe etwas näher ran und lese die Frage: „Heute schon philosophiert?”

 

Peng, das sitzt! Ich fühle mich ertappt und muss zugleich innerlich herzhaft lachen.

Was bewegt doch dieser schönste aller Wege die grauen Zellen. Die Gefühle der Menschen

werden angezapft und offenbaren dabei so einen herrlichen Humor.

 

Am Schlangenweg biege ich von der Rennstrecke der fliegenden Füße und hastigen

Worte ab, hinunter zum Neckar. Endlich, endlich Ruhe!

 

Beim zweiten Rondell halte ich an, um ruhig die Aussicht zu genießen, welche das

gegenüberliegende Panorama ausstrahlt. Ich bin also gerade dabei, mich innerlich von

dem Hier und Jetzt zu lösen, als abermals hastiges Atmen mit fremdartigen Wortfetzen

an meine Ohren dringt.

 

Vier englisch sprechende Mitmenschen erklimmen im Laufschritt den Berg und wollen

sich, völlig verschwitzt, in meinem Rondell ausprusten. Schwer atmend stellen sie

sich vor mir auf die kleine Mauer. Dass sie mir dabei mit ihrem Allerwertesten den Blick

auf die berühmteste Ruine der Welt verstellen, bedenken sie nicht. Jetzt reicht‘s mir.

Freiwillig räume ich das Feld, um nicht Gefahr zu laufen, dass mir ein sarkastisches

„great” entweicht.

 

Ich gehe den, wie mit einem goldenen Blätterteppich ausgelegten Schlangenweg

hinab zu dem Fluss, an dem mein geliebtes Heidelberg entspringt.

 

Da, unvermittelt hellt sich mein Gesicht auf. Da, auf einer Bank an der hohen Sandsteinmauer. Da – da sitzt ein Pärchen, das nichts anderes macht als die Aussicht, die

herbstliche Wärme, die Ruhe und seine Zweisamkeit zu genießen.

 

Gott sei Dank, ich bin nicht allein. Ich bin nicht der Einzige, der ganz normal angezogen

in diesen Sonntag gegangen ist. Der seine gesundheitliche Fitness willentlich

vernachlässigt und nur Ruhe und Frieden sucht

.

Ich grüße die beiden etwas übertrieben freundlich und sie grüßen ebenso zurück,

so, als würden wir uns kennen. Aber ja doch – natürlich, wir sind ja Seelenverwandte.

Mein Sonntag ist gerettet.

 

Zur Belohnung für meine große körperliche Anstrengung nehme ich mir an der

Uferstraße ein Taxi. Der wortkarge asiatisch aussehende Fahrer, der einen hässlichen,

grün-violetten Schal trägt, bringt mich zurück zum Hauptbahnhof in den Verdauungstrakt

des alltäglichen Lebens.

 

Auf mein freundliches: „Danke und auf Wiedersehen“ erwidert er:

„Alla donn, noch en schäne Dag.“

„Ahhh, also ein echt integrierter Kurpfälzer.“

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