Taxi Driver

Ingrid Dietrich

 Lieselotte stieg verkatert aus dem Nachtzug, in dem sie endlose Stunden schlaflos verbracht hatte. Das monotone Rattern hatte sie nicht in den Schlaf wiegen können. Dazu war sie zu übermüdet, aber auch zu besorgt. Wie würde sie ihre Wohnung vorfinden nach einer Woche Abwesenheit? Sie hatte den Schlüssel ihrer halbwüchsigen Tochter überlassen, aber ein ungutes Gefühl dabei gehabt. In letzter Zeit hatte sie feststellen müssen, dass ihr geliebtes Töchterchen nichts mehr auf ihre mütterlichen Ermahnungen gab und stattdessen machte, was sie wollte. Waren in ihrem gepflegten Zuhause wüste Partys gefeiert worden? Würde es nach

Marihuana riechen, wenn sie die Wohnungstür öffnete?

 

Als Lieselotte die Bahnhofshalle verließ, winkte sie schnell ein Taxi herbei und nannte dem

Fahrer ihre Adresse. Sie legte ihren kleinen Rollkoffer auf dem Rücksitz ab und setzte sich

neben den Fahrer. Sonst fing sie immer ein Gespräch mit den Taxifahrern an. Diese waren

meist ältere Männer, die mit arabischem oder türkischem Akzent und großem Stolz erzählten

von ihren Söhnen, die erfolgreich in Deutschland Karriere gemacht hatten. Die Varianten

dieser immer gleichen Geschichte rührten sie: das Heimweh und der soziale Abstieg der Väter

im fremden Land sollte gerechtfertigt werden durch den Erfolg ihrer Söhne.

 

Doch heute Abend war sie zu müde für eine Unterhaltung. Sie lehnte sich zurück und warf

einen flüchtigen Blick auf den Fahrer neben sich. Diesmal schien es einer aus der Generation

der Söhne zu sein, der das Taxi fuhr: südlicher Typ, wortkarg und etwas finster dreinblickend,

mit einem auffällig gemusterten grün-lila Schal, den er nachlässig um den Hals geschlungen

hatte. Sein schwarzer, dicker Schnauzbart wies ihn als Türke oder Araber aus. Seine nach

hinten gegelten Haare glänzten schwarz, und in seiner lässig getragenen Lederjacke wirkte der

junge Mann auf Lieselotte wenig anziehend. Ihre Tochter hätte einen solchen Typ sicherlich

„cool“ gefunden, dachte Lieselotte seufzend. Ihr gefiel er gar nicht, und in ihrem Zustand der

Übermüdung kam er ihr wenig vertrauenerweckend vor.

 

Lieselotte rief ihre Phantasie zur Ordnung und verbot sich selbst solche Vorurteile auf Grund

von Äußerlichkeiten. Doch das Benehmen des Taxifahrers erschien ihr ebenfalls ziemlich

ruppig. Er schwieg düster vor sich hin, während er seinen Job erledigte, als wünschte er, ganz

woanders zu sein. Krachend legte er den Gang ein und stieg auf das Gaspedal. „Das kann ja

heiter werden“, dachte sie, als der Wagen die Straße am Neckar entlangschoss.

 

Schließlich ließ sie den Fahrer in der Nähe der Alten Brücke halten, drückte ihm einen 20-

Euro-Schein in die Hand und stieg hastig aus, ohne auf das Wechselgeld zu warten. Sie hatte

es eilig, zu ihrer Wohnung in der ruhigen Altstadt-Gasse zu kommen. Als sie dort einbog, sah

sie, dass das Haus noch stand. Sie registrierte erleichtert, dass kein Feuer aus dem Dachstuhl

schlug. Lieselotte schimpfte sich selbst aus wegen ihrer mütterlichen Angstphantasien. Sie

klingelte lange und heftig. Als niemand öffnete, schloss sie die Haustür mit ihrem

Zweitschlüssel auf. Endlich war sie oben, öffnete die Etagentür und stand im Flur. Ein

flüchtiger Rundblick zeigte ihr, dass oberflächlich alles in Ordnung war.

 

Lieselotte rief nach ihrer Tochter, doch sie bekam keine Antwort. Sie schalt sich selbst, dass

sie ihre Aufsichtspflicht verletzt und dem Teenager vertraut hatte, der anscheinend mitten in

der Nacht noch nicht zu Hause war. Missmutig klopfte sie an die Zimmertür ihrer Tochter und

drückte die Klinke herunter, weil sie nicht damit rechnete, sie dort vorzufinden. Doch

tatsächlich zeichnete sich in dem Lichtstreifen, der vom Flur auf das Bett ihrer Tochter fiel,

eine zusammengerollte Gestalt unter einem Haufen Bettzeug ab. Anscheinend schlief ihr

Töchterchen fest. Zumindest tat sie so und rührte sich nicht. Vor ihrem Bett lag ein

unordentlich hingeworfener Schal. Lieselotte traute ihren Augen nicht: es war ein Crinkle-

Schal mit auffälligem grün-lila Karomuster, den sie noch nie an ihrer Tochter gesehen hatte.

Aber irgendwie kam er ihr bekannt vor.

 

Um ihre Tochter nicht zu wecken, zog sie die Zimmertür wieder zu und hob sich die

Begrüßung für den nächsten Morgen auf. Plötzlich schellte es an ihrer Haustür Sturm. „Was

ist denn los?“ dachte sie erschrocken. Zuerst wollte sie nicht öffnen, doch als das lästige

Klingeln nicht aufhörte, betätigte sie den Summer und öffnete schließlich die Tür.

 

Vor ihr stand der ruppige Taxifahrer mit dem grün-lila Schal. Ärgerlich stellte er ihr den

Rollkoffer vor die Tür, den sie im Taxi vergessen hatte. „Da haben Sie aber Glück gehabt,

dass ich Sie noch gefunden habe“, sagte er in breitem kurpfälzischem Dialekt. „Sie waren so

schnell weg, dass Sie gar nicht mehr an Ihr Gepäck gedacht haben.“

 

Also doch kein Türke? Oder einer, der hier aufgewachsen war? Lieselotte war irritiert. Der

Mann, der ihr gerade einen großen Dienst erwiesen hatte, passte nicht in ihr Schema. Dennoch

kramte Lieselotte noch einmal ihre Geldbörse heraus und gab ihm ein Trinkgeld. „Mama, was

ist denn?“, hörte sie eine verschlafene Stimme hinter sich. Sie drehte sich um und sah ihre

Tochter in einem dicken Pyjama und mit Wollsocken an den Füßen in der Zimmertür stehen.

Das schwer erkältete Häufchen Unglück tat ihr Leid, und sie schloss ihre Tochter fest in die

Arme und tat ihr gleichzeitig innerlich Abbitte für ihre mütterlichen Befürchtungen.

 

Doch irgendetwas stimmte nicht: Es kam Lieselotte vor, als hätte ihre Tochter schon einen

Moment länger hinter ihr gestanden und sich mit dem Taxifahrer durch Blicke verständigt.

Dieser polterte schließlich widerstrebend die Treppe hinunter, und die Haustür fiel krachend

ins Schloss. „Ein schrecklicher Mensch, aber immerhin ehrlich“, murmelte sie vor sich hin.

Da sie ihrer Tochter den Rücken zukehrte, sah sie nicht den verzückten Gesichtsausdruck, den

das plötzliche Auftauchen des Taxifahrers auf das Gesicht ihrer Tochter gezaubert hatte.

 

Lieselotte schob ihre Verwirrung beiseite, und ihre Glucken-Instinkte gewannen die

Oberhand. Sie wandte sich dem vergrippten Häufchen Unglück zu, das hinter ihr stand und

heftig schniefte. Sie drückte ihre kranke Tochter fest an sich. Dabei kratzte ihre Wange an

dem grün-lila gemusterten Schal, den sich ihr Kind beim Aufstehen um den Hals geschlungen

hatte. Sie stutzte, denn diesen Schal hatte sie doch vor kurzem noch gesehen…

 

„Wo um alles in der Welt hast du denn diesen fürchterlichen Schal gekauft?“, fragte sie ihre

Tochter. „Für 5,60 Euro bei Aldi“, krächzte diese. „Ich bin ja so erkältet und hab im Schrank

keinen anderen Schal gefunden. Und weil dieser so schön billig war, habe ich auch gleich

einen für meinen neuen Freund mit gekauft. Du hast ihn gerade gesehen. Ach Mama, ist der

nicht cool?“

 

Dies konnte Lieselotte weder für den Schal noch für den jungen Mann bestätigen. Aber sie

hielt den Mund und dachte: „So ist es wohl, wenn Töchter erwachsen werden…“

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