Wie aus einem Nichts ein Jemand wurde

Marion Gottlob

In dieser Geschichte hat sich der Mann mit dem lila-grünen Schal noch nicht gezeigt – aber, vielleicht tut er es noch.

Ja.

Es war einmal ein Nichts. Es war nicht nur ein Nichts, nein, es war ein nichtiges Nichts, einfach ein Null-Nichts. Dieses Nichts saß Tag und Nacht an einem kleinen See. Bäume und Sträucher wucherten um diesen See, so dicht, dass niemand mehr wusste, dass es diesen See überhaupt gab. Nur eben dieses winzige Nichts.

Da saß es nun, es kauerte und jammerte ohne Pause: „Ich bin so einsam, ich bin so einsam, oh, was bin ich so einsam.“

Dann beugte es sich über die stille Oberfläche des Sees, bis es manchmal hineinfiel. Das machte einen lauten „Platsch“ an diesem einsamen See. Aber niemand hörte das, und das Nichts wälzte sich ein wenig in dem Schlamm, den es aufgewirbelt hatte, bevor es wieder ans Ufer stieg, um weiter zu weinen: „Ich bin so einsam.“

Neben ihm beugte sich die Trauerweide so tief, dass ihre Zweige sanft den See streichelten. Aus lauter Einsamkeit. Die Enten tauchten ihre Köpfchen wieder und wieder tief in das Wasser, vor lauter Einsamkeit. Und die Fische sprangen aus dem See hoch in die Luft, nur aus lauter Einsamkeit.

Aber das merkte das Nichts nicht, denn es war zu sehr mit seiner eigenen Einsamkeit beschäftigt.

 

Da verirrte sich ein gelehrter Jurist an diesen See, der auf keiner Karte verzeichnet war. Er war so mit sich und mit seinen Gedanken beschäftigt, dass es ihm unmöglich war, das Nichts zu sehen. Doch er hörte das Schluchzen des Nichts. „Entschuldigung“, sagte der Jurist, denn er war ein wohlerzogener Mann. Er reichte ein Papier-Taschentuch in das Nichts, genau in die Richtung, aus der er das Schluchzen hörte. Das Nichts nahm das Taschentuch, weinte es nass und schnäuzte sich kräftig. Also zückte der Jurist ein zweites und dann ein drittes Taschentuch, die allesamt im Nichts verschwanden.

Der Mann wurde ärgerlich:

„Wenn man so traurig ist, dann sollte man dafür sorgen, dass man über genügend Taschentücher verfügt.“

Er hatte das nur gemurmelt, aber er wurde recht wütend, als er merkte, dass dieses unsichtbare Nichts ihm nicht zugehört hatte.

„Hören Sie“, sagte er ins Nichts, „ich weiß ein Mittel gegen die Einsamkeit.“ Mitten in das haltlose Schluchzen des Nichts sagte er mit energischer Stimme:

„Das Heilmittel heißt „Ordnung“. Hören Sie, „Ordnung“ habe ich gesagt.“

Ordnung? Das Nichts war so verblüfft, dass es von einem neuen Schluchzen erschüttert wurde.

„Ordnung“, rief der Jurist, „Ordnung ist das halbe Leben – und der Rest ergibt sich. Und Ordnung – diese gute Ordnung erkennt man daran, wie jemand seine Schuhe abstellt.“

Das Nichts war so verwirrt, dass es sich noch einmal laut schnäuzen musste. Während ihm die Tränen über das nichtssagende Gesicht liefen, suchte es nach den Schuhen, die es vor Urzeiten ausgezogen hatte. Tatsächlich, da lagen unter einem Baumstumpf zwei Schuhe, genauso, wie es sie hingeworfen hatte. Das Nichts schaute mit einem peinlichen Gefühl auf die abgelaufenen Sohlen. Die Schnürsenkel bildeten ein paar Schleifen. War es einst mit diesen Schuhen herumgelaufen? In einer Zeit, als es nicht so einsam gewesen war?

„Wenn ich die Schuhe eines Menschen sehe – und die Art und Weise, wie dieser Mensch diese Schuhe abstellt“, sagte der Jurist, „dann weiß ich sofort, welchen Charakter ich vor mir habe.“

Das Nichts zuckte zusammen. Uih, wie war das genierlich. Es schlich sich, so leise es konnte, zu seinen Schuhen, stellte sie ordentlich unter den Baumstumpf und tat die Schnürsenkel noch ordentlicher in die Schuhe. Misstrauisch betrachtete es die neue Ordnung – und dann erschrak es doch sehr.

„Verzeihen Sie“, murmelte der Jurist, „darf ich Sie zum Abschied umarmen?“

 

Er war dem Schluchzen des Nichts gefolgt und nun drückte er das unsichtbare Nichts fest an sich. Und seine Seele zuckte zusammen, denn sie berührte den Kummer des Nichts, und es war, als würde ihn ein Messer in zwei Hälften schneiden, wie einen Apfel. Eine Panik überkam ihn, aber nur kurz. Dann machte er sich heiteren Sinnes wieder auf den Weg. „Ich habe eine Mission erfüllt“, sagte er, zufrieden mit sich selbst.

 

Das Nichts vergaß die Schuhe sofort, und den Juristen auch. Es ließ sich wieder am Ufer des verwunschenen Sees nieder. Krämpfe zuckten über den Körper des Nichts:

„Ich bin so einsam.“

Eine eisige, grüne Kälte stieg aus seiner inneren Tiefe empor. Es verspürte eine ungewisse Sehnsucht, nach dieser Zeit, als es nicht so einsam gewesen war.

 

Da klopfte ein Postbote an den Baumstamm, an dem die Schuhe so ordentlich standen.

„Fast hätte ich diesen See nicht gefunden, diesen See, der nirgendwo verzeichnet ist – aber ich habe einen Brief für Sie, einen Brief an ein Nichts.“

Der Postbote hielt den Brief weit von sich, so dass das Nichts den Brief nehmen konnte.

Es nickte und wollte den Brief ungeöffnet in den See flattern lassen.

„Es ist ein Brief mit Rückschein, ich brauche eine Antwort“, sagte der Postbote.

Er zündete sich eine Zigarette an.

„Ich warte“, sagte er gemütlich.

Da öffnete das Nichts den Brief, der schon feucht von seinen Tränen war. In deutlichen und großen Buchstaben stand dort geschrieben:

„Wir wollen Dir etwas sagen: Du bist so hässlich, dass niemand Dich mögen kann. Verzeih, dass wir Dir das sagen müssen, aber niemand sonst wagt es, Dir die Wahrheit zu sagen. So tun wir Dir mit dieser Nachricht einen Gefallen – einst wirst Du uns dafür noch dankbar sein. Natürlich wissen wir, wie verletzt Du sein wirst – aber wir müssen tun, was wir tun müssen. Einen freundlichen Gruß in Deine Einsamkeit, Anonym.“

Das Nichts hielt inne, seine Tränen versiegten. Es war, als hätte man ein schwarzes Schwert in das Nichts gebohrt, mitten in das Herz – und als hätte man das Schwert anschließend mehrfach gedreht.  Das machte Schmerzen, solche schwarzen Schmerzen.

„Ich habe keine Antwort“, sagte das Nichts.

„Das gilt nicht“, sagte der Postbote.

„Sie sind alle blöd“, sagte das Nichts.

Ein riesiger Strom von Tränen ergoss sich aus dem Nichts in den See. Es hatte eine vage Erinnerung an eine Zeit, als ihm einst jemand gesagt hatte: „Du bist so schön.“ Wann war das gewesen?

„Das ist eine Antwort“, sagte der Postbote zufrieden.

Er trat seine Zigarette aus.

„Und – darf ich Sie einmal umarmen?“ fragte der Bote, „ich möchte es unbedingt wissen – wie fühlt es sich an, das Nichts?“

Das Nichts hatte  nicht hingehört. Plötzlich fühlte es sich umfangen, von zwei Armen, die ins Nichts fassten. Da duckte es sich rasch hinweg – und der Bote umarmte sich selbst, ganz fest. Er schüttelte sich kurz, vor Erstaunen: „So fühlt sich das also an.“ Zufrieden ging er von dannen.

 

Das Nichts blieb zurück, einsamer denn je zuvor. Aus dem Nichts der Briefe war ein Spiegel entstanden. Doch das Nichts schaute nicht in diesen Spiegel, wozu auch? Sollte es seine eigene Hässlichkeit betrachten?

„Ich bin so einsam, ich bin so hässlich.“

Ein heißes Feuer loderte in seinem Innern hoch und hüllte es in seinen roten Schein. Aber da es ein Nichts war, konnte es sich nicht auflösen, in diesen roten Flammen. Es blieb einfach das, was es war – ein Nichts.

So saß es lange, ohne Worte. Eingehüllt in eine Einsamkeit, die nur wenige kennen. Es war eine Einsamkeit, die aus einem Feuer kam und doch so kalt war wie ein weißer Gletscher. Diese Einsamkeit war lautlos, und doch war sie erfüllt von dem Krachen der Eisplatten, die brechen, und von einer Musik, die unhörbar war.

 

Da kam ein neuer Gast. Es war ein Techniker, dünn und dick zugleich.

„Ich kenne Ihr Problem, genau“, schrie er, denn gerade jaulte das Nichts in seiner Qual der Einsamkeit laut auf.

„Was?“ wimmerte das Nichts.

„Ich kenne Ihr Problem“, wiederholte der Techniker, unbekümmert.

„Ja?“

„Sie werden wunderlich.“

Das Nichts hielt in seinem Gejaule inne: „Wunderlich?“

Der Techniker nickte: „Kein Wunder: Wer so lebt wie Sie, der wird wunderlich. Sie brauchen einen Gefährten, das ist es, was Sie brauchen.“

Einen Gefährten? Das Nichts erstarrte. Es war, als wäre es bisher an einer glatten Eiswand gehangen, gerade hier, an diesem kleinen See. Nun stürzte es ab, in Zeitlupe, Minute für Minute, Stunde für Stunde. Hatte es eine Zeit gegeben, als es einen Gefährten hatte? Hatte es eine Zeit gegeben, als es nicht in dieser grünen und eiskalten Hölle der Einsamkeit gewesen war? Hatte es eine Zeit zwischen der Einsamkeit seiner Entstehung und seiner Einsamkeit jetzt und hier gegeben? Hatte es eine Zeit „dazwischen“ gegeben?

Das Nichts nickte nachdenklich.

„Eben“, sagte der Techniker, der das Nichts nicht sehen konnte.

„Und als erstes“, fügte er hinzu, „brauchen Sie eine Wohnung.“

Das Nichts wunderte sich: Wunderlich? Wohnung?

„Und ich sage Ihnen etwas“, fuhr der Techniker fort, „ich vermiete Ihnen diesen Ort, an dem Sie sitzen, als Wohnung. Sie zahlen einfach eine Miete – und Sie werden nicht mehr so einsam sein.“

Das Nichts war sprachlos. Hier eine Wohnung, direkt am See, genau dort, wo es war?

„Es braucht nur“, murmelte der Techniker, „einen roten Sessel und ein paar Kissen.“ Er zog beides hervor, aus seinem ganz privaten Nichts.

Das Nichts staunte. Es schaute auf die ordentlichen Schuhe, mit den fein sortierten Schnürsenkeln, den Spiegel – und dazu auf den roten Sessel und die Kissen, mit ihren karierten Mustern. Und es sah an sich herunter, in das Nichts. Und es fühlte seine Furcht vor der Einsamkeit, vor der Hässlichkeit und vor der Miete.

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, sagte das Nichts.

„Macht nichts, danken können Sie später“, sagte der Techniker, „die Abrechnung für die Miete kommt in den nächsten Tagen, dazu die Übersicht über die Nebenkosten für Heizung und Wasser.“ Ein wenig skeptisch schaute er auf das Wasser des Sees.

„Na ja, irgendwie kriegen wir das hin, wir haben noch alles berechnet, bisher, wir werden auch dieses Wasser berechnen.“

Er wollte schon gehen, doch zuvor gab er sich einen Ruck – und umarmte das unsichtbare Nichts von hinten, denn er war heimlich der Stimme des Nichts gefolgt. Und da zuckte er zusammen, denn es wurde ihm kalt, ganz tief in seinem Herzen. „Vielleicht war das alles doch keine so gute Idee“, murmelte er. Und er verschwand.

 

Und das Nichts vergaß ihn sofort. Es vergaß die Schuhe, den Spiegel und die Möbel, es vergaß sogar den See. Denn seine Seele war nicht mehr an diesem Ort. Sie war überhaupt an keinem Ort dieser Erde mehr. Die Seele des Nichts war entflohen, in die Weite des Alls – und selbst das All konnte seine Einsamkeit nicht mehr fassen. Da wurde das Nichts geschüttelt, von seinem lautlosen Schluchzen – es hörte sich an wie die Klänge von Harfen, ganz fein.

 

Da stand eine Frau vor dem Nichts. War die Frau zu dem Nichts gekommen – oder das Nichts zu der Frau? Hatte es sich bewegt, ohne es zu merken?

„Jetzt machen Sie mal kein solches Theater!“ sagte die Frau. Sie war wunderschön. Ihre blauen Augen strahlten wie der Himmel. Sie trug ein Lächeln in diesen Augen, wie die Sterne.

„Sie brauchen“, sagte sie zu dem Nichts, „ein wenig mehr Willen zum Leben. Das ist gar nicht so schwer. Denn sonst“, sie lächelte noch mehr, „denn sonst werden Sie sterben. Ich spüre das.“

Sterben? Das Nichts lächelte das erste Mal. Wäre das Sterben eine Befreiung von aller Qual?

Das Nichts lächelte weiter.

„So“, sagte die Frau, „so ist es gut. Ich kann Sie zwar nicht sehen, aber ich fühle ihr Lächeln.“ Sie war stolz auf sich und ihre Fähigkeiten.

„Nun wollen wir mal sehen, was es zum Leben braucht – ein bisschen Make-up, ein paar Heilsteine – und natürlich eine neue Wohnung. Und zwar eine Wohnung, die ein wenig preisgünstiger ist – sonst zahlen Sie sich ja tot, nur an der Miete.“

Sie schnippte mit den Fingern – es tauchten eine Creme für empfindliche Haut und ein lila Edelstein auf. Der Ort, wo das Nichts sich niedergelassen hatte, bekam Fenster in Wänden, die nicht da waren. Zu den ordentlichen Schuhen, den Möbeln und dem Spiegel.

Das Nichts lächelte erneut – und es dachte an das Jenseits. Würde es dort warm sein? Gab es dort Kräfte, die das grüne Feuer löschen könnten?

Und die Frau sagte: „So gefallen Sie mir, mit diesem Lächeln, mit dem Sie alle bezaubern können.“

Das Nichts lächelte erneut, denn es wusste, dass es des Todes war. Es würde seinen Platz an dem See verlassen, die Schuhe, den Spiegel, die Möbel und die Fenster im Nichts. Es würde dorthin gehen, wo es Dächer aus Glas gab und sich in dieses Glas stürzen. Das Nichts breitete die Arme weit aus, in der Erwartung dieses Sturzes in das Nichts, wenn das Glas unter seiner Last splittern und all seine Gliedmaßen aufschneiden würde.

Es lachte.

„Noch besser“, sagte die Frau, „so wird alles gut. Was für Fortschritte.“

Vor Eifer breitete auch sie ihre Arme weit aus und ihre Fingerspitzen ertasteten das Nichts. Da überkam sie ein Schrecken, so tief wie zehn dieser kleinen Seen.

Sie seufzte auf: „Werde auch ich einst sterben? Werde auch ich einst so einsam sein?“ Sie sah auf ihre Arme, die rot waren von den Brandwunden des kalten Feuers, aus dem Nichts. Da ging sie leise davon, weg von diesem Nichts.

 

Das Nichts merkte es nicht. Es hatte die Frau und ihre Ratschläge längst vergessen. Die Einsamkeit hielt es wieder umfangen. Und noch etwas! Es hatte gespürt, dass es nicht in die Glasdächer springen durfte. Die Einsamkeit würde mitspringen. Es wusste nun, dass es auch im Jenseits in dieser Einsamkeit und Nichtigkeit ertrinken würde. Es half alles nichts, es war verdammt, zu diesem Leben.

So blieb es zurück, einsamer denn jemals zuvor – wenn das überhaupt möglich war. Das Nichts hatte das Gefühl, dass es weder atmen noch sich bewegen konnte. Es war erstarrt, vor Einsamkeit.

 

Da kam dieser Mann mit dem Ring aus schwarzem Silber und einem roten Hut auf dem Kopf. Er nahm den roten Hut nie ab, nicht einmal zum Schlafen.

Er spürte die Einsamkeit des Nichts und sagte:

„Du kannst ganz ruhig sein – ich darf doch „Du“ sagen. Die Einsamkeit, unter der Du leidest, sie ist ganz einfach, nichts.“ Er wedelte mit den Händen und war sehr stolz auf sich und seine Einsicht.

„Ich bin so klug“, sagte er und klopfte sich selbst auf die Schultern, erst auf die eine und dann auf die andere. Er fügte hinzu:

„Ich bin ehrlich, ich gebe zu, dass ich Dich nicht sehen kann, aber das macht gar nichts.“

Er lachte laut und unbeherrscht, dann sprach er einen Zauber und wedelte mit der Hand, an der er den silbernen Ring trug. Aus dem Nichts entspann sich ein Netz, das war wie ein Netz, mit dem man Fische fängt. Dieses Netz fiel auf das Nichts, so dass es sich nicht mehr rühren konnte.

Der Mann mit dem Ring und dem Hut lachte erneut sein lautes, gönnerhaftes Lachen:

„Meine Liebe, wenn ich so sagen darf, ich werde mit Dir, diesem Nichts, Geschäfte machen. Deine Tränen werden versiegen, denn Du wirst reich – und ich werde, mit Dir, noch reicher als Du.“

Er warf sich das Netz mit dem Nichts über seine Schulter und wollte sich vom See entfernen. Er kam nicht weit, denn das Nichts auf seinem Rücken wurde so leicht, als wäre es gar nicht mehr da. So kehrte er zu dem Baumstumpf mit den ordentlichen Schuhen zurück. Achtlos kickte er sie beiseite und schnaufte laut.

„Wir müssen essen“, sagte der Mann.

Er schnipste mit den Fingern der Hand, an der er den silbernen Ring trug – und es erschien ein kleiner Tisch, mit Steaks und Paprika und Pfeffer.

„Das Fleisch muss blutig sein“, sagte er, „jetzt iss.“

Gehorsam setzte sich das Nichts an diesen Tisch, auf dem ein schmutziges Handtuch als Tischdecke lag. Und das Fleisch, aus dem das Blut troff. Das Nichts aß, als hätte es noch nie zuvor gegessen, bis es vier Steaks gegessen hatte – und der Mann hatte nichts gegessen.

„Und jetzt“, lächelte der Mann mit dem Hut und dem Ring, „jetzt wollen wir schlafen gehen, in einem Bett, das 2000 Dollar gekostet hat. Denn während Du gegessen hast, habe ich Deinen Gedanken gelauscht – und damit viel Geld verdient.“

Er zwang das Nichts in das Bett. Das Nichts schrie vor Einsamkeit und Qual, mitten in diesem Bett und mitten in der Nacht. Es schrie und schrie, ohne Ende. Manchmal setzte es sich auf und atmete tief, bis ein neuer Schrei sich aus seiner Kehle Bahn brach, ohne Ende. Aus dem Nichts öffneten sich Wunden, dort, wo das Netz die Haut des Nichts berührte – und sein Blut tränkte das Bett.

Nacht für Nacht schrie das Nichts, in der Unendlichkeit seiner Einsamkeit und seiner Sehnsucht nach etwas, was es verloren und vergessen hatte. Es fühlte, wie seine Seele leer war.

Der Mann sagte grob:

„Hör auf.“

Da wurde das Nichts so wütend, dass es seine Hand ausstreckte, diese Hand aus dem Nichts – und es nahm die Seele dieses Mannes mit dem silbernen Ring – und riss sie auf das Meer der Einsamkeit. Der Mann bekam große Angst und sagte: „Du weißt, wie sehr ich das Meer und seine Launen fürchte und hasse.“

Das half ihm nichts. Das Nichts gab seine Seele nicht frei, sondern führte sie in die Stürme des Meeres, die es liebte, in diese Stürme, die nur jene ertragen, die diese unendliche Einsamkeit erleiden. Als das Nichts die Seele des Mannes wieder an Land spülte, an das Land der Menschenwelt, da sagte der Mann:

„Ich glaube, ich bin nicht stark genug für Dich. Vielleicht werde ich zu alt. Hör auf mit dem Geschrei, oder ich muss Dich verlassen.“

Das Nichts schrie und schrie und schrie. Der Mann wollte dem Nichts 50 Euro geben, damit es ruhig sein und bei ihm bleiben sollte. Doch das Nichts wollte keine 50 Euro und keine 100 Euro.

„Ich will“, schrie das Nichts, „meine Freiheit zurück.“

„Deine Freiheit?“ lachte der Mann brutal, „nie, nie, nie mehr wirst Du frei sein.“ Er fasste das Netz fester, das er all die Zeit nicht aus der Hand gegeben hatte.

 

Doch da kam ein leiser Wind geweht, aus dem fernen Indien. Er wehte die Hände des Mannes von dem Nichts hinweg. Es kam noch ein Wind aus dem warmen Süden von Europa, der löste den Zauber des Netzes, als wäre es nichts. Es kam ein Wind aus dem Jenseits, der begann die Heilung des Nichts, das krank geworden war von dem Mann. So schwer krank, wie ein Nichts nur werden kann, am Herzen und an dem Schmetterling, über das nur ein Nichts verfügt.

 

Da floh der Mann von dannen.

 

Das Nichts blieb zurück an seinem See, der so klein war, dass er auf keiner Karte verzeichnet war. Bei den Schuhen, die wieder unordentlich herumlagen, bei den Möbeln, die umgekippt waren, und bei dem Spiegel, der zersplittert war. Bei den Fenstern, die ins Nichts zeigten. Und bei dem kleinen Tisch mit dem schmutzigen Handtuch und dem Bett, das von Blut getränkt war.

Das Nichts war so froh, wieder allein an diesem See zu sein, dass es all das nicht bemerkte. Es schluchzte vor Einsamkeit, die seine Seele erfüllte. So verharrte es eine lange Zeit.

 

Da kam eine Frau, es war eine weise Frau. Sie kam aus einem Land, das gar nicht auf dieser Erde zu Hause ist. Die Frau konnte das Nichts und seine übergroße Einsamkeit sehen.

„Ich sehe Sie“, sagte sie, „ich achte Sie.“

Da horchte das Nichts auf. Es setzte sich aus freien Stücken zu dieser Frau. Es weinte und weinte und weinte. Die Frau hatte genügend Taschentücher, eines nach dem anderen durfte das Nichts sich nehmen und weinen, bis sie alle nass waren. Das machte gar nichts.

Denn die Frau hatte Zeit, alle Zeit des Lebens und der Ewigkeit.

Sie sah das Nichts, auf dessen Körper das Blut die karierten Muster des Fischernetzes gemalt hatte.

„Wahre Heilung“, sagte sie, „braucht ihre Zeit.“

Die Frau sagte: „Ich weiß, wie sehr Sie leiden. Und ich weiß, wie sehr Sie den Tod herbeisehnen. Und doch! Sie und ich wir wissen, dass der Tod Ihnen keine Erleichterung bringen kann. Er würde Sie, wenn das möglich ist, noch einsamer machen. Sie und ich, wir wissen das.“

Das Nichts nickte, denn die Frau sprach die Wahrheit.

Die Frau sprach weiter: „Und doch! Da Sie leben und nun einmal da sind – können Sie dann nicht das Beste daraus machen?“

„Das Beste daraus machen?“

Unter Tränen sah das Nichts zu der Frau – und diese Frau fürchtete sich nicht vor der Einsamkeit und vor dem Leid in den Augen des Nichts.

Die Frau nickte: „Suchen Sie Zuflucht vor der Einsamkeit – in der Einsamkeit und in der Tiefe Ihrer Seele.“

„Im Nichts meiner Seele?“

Die Frau lachte.

„Ich soll?! Ich kann?!“

Die Frau nickte: „Sie können jederzeit anrufen.“ Aus dem Nichts erschien ein Telefon – mit einer Nummer und dazu eine E-Mail-Adresse.

 

Das Nichts sah das Telefon, die Nummer und die E-Mail-Adresse. Dann ließ es sich fallen, in das eigene Nichts, mit den Gletschern aus Eis und dem Feuer aus Grün.

Die Schuhe verschwanden.

Die Scherben des Spiegels fügten sich zusammen – und verschwanden.

Die Möbel stellten sich auf – und verschwanden.

Die unsichtbaren Wände mit ihren Fenstern verschwanden, einfach so.

Das Blut am Körper des Nichts floss davon und löste sich in dem kleinen See in Nichts auf. Sogar die Rechnung für die Miete – sie löste sich auf, in Nichts. Und das Bett, dieses Gefängnis aus Blut, ging in Flammen auf und verschwand, ohne Rauch.

 

Das Nichts stürzte sich in seine Einsamkeit – und diese  Einsamkeit wandelte sich in einen Fluss aus Gold, der in den Tiefen seines Herzen entsprang. Auf diesem Fluss, da sah es, dass es einst geliebt hatte, einen Gefährten, mit ganzem Herzen – und dieser Gefährte war in die andere Welt gegangen, in die Welt des Jenseits.

So war das Nichts zu diesem Nichts geworden, das es heute war, mit all seiner Einsamkeit. Und das Nichts schaute, schaute und schaute. Es schaute die Sterne, die es trösteten. Es schaute die Sonne, die ihm Wärme schenkte. Es sah die Bäume mit der Trauerweide, die bei ihm wachten. Und es sah den kleinen See, der ihm das eigene Spiegelbild schenkte, mit aller Hässlichkeit. Es war in Ordnung.

 

Da streckte das Nichts seine Arme aus, als würde es eine Schale darreichen, vom Diesseits ins Jenseits. Minute um Minute verharrte es so, die Arme weit ausgestreckt. Und dann! Dann spürte es die Antwort des Liebsten, den es verloren hatte. Es spürte einen Hauch auf seinen Händen! Es blieb und blieb so stehen, in dieser Sehnsucht, für die es keine Worte geben kann oder muss. Das machte nichts, aber auch überhaupt gar nichts.

Da formte sich ein weißes Licht, von diesen Händen, die sich da reichten – die sichtbaren Hände und die unsichtbaren Hände. Ein weißes Licht, das immer heller wurde und nicht von dieser Welt war, ein Licht, das sich hoch gen Himmel reckte wie eine hohe Säule.

Da staunte das Nichts, wie nur ein Nichts staunen kann. Es spürte, wie dieses weiße Licht seine Seele nahm und über sich hinaus führte. Das Bewusstsein des Nichts wurde weit, weit, weit. Und mit ihm weitete sich der kleine See, weit, weit, weit, bis der See zum Meer wurde und dann! Dann wurde das Meer zum All, groß, groß, groß! Und dann! Dann wurde das All wieder klein, klein, klein, bis es wieder zum Meer und dann zu diesem kleinen See wurde, mit den Bäumen und der Trauerweide am Ufer.

Da wusste das Nichts, dass es immer einsam sein würde. Und es wusste zugleich, dass es nie mehr einsam sein würde. Es fühlte in seiner Seele diese Liebe. Es fühlte, wie in seiner Seele ein Einverstanden-Sein wachsen würde. An diesem kleinen See, mit der Trauerweide und seinem Spiegelbild. Und mit dem Telefon und der Nummer, die es jederzeit anrufen konnte, und der E-Mail-Adresse, an die es schreiben durfte.

Es wurde erneut von einem Schluchzen geschüttelt, dem Schluchzen der Einsamkeit. Doch es wusste nun, dass es weiterleben würde. An diesem See, ganz klein. Es würde das Beste daraus machen.

 

Und vielleicht, ganz vielleicht, würde es ihm bis dahin möglich sein, all-eins zu werden, als Nichts an diesem See, für Momente, vielleicht, vielleicht, vielleicht. Da neigte es das Haupt in Dankbarkeit, vor dem All, vor der weisen Frau und den guten Geistern, vor der Liebe. In tiefster Demut.

 

 

 

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