Elke Barker
Und dann stand ich am Shuttle-Treffpunkt. Mit Mara neben mir, die traurig war, die unendlich gern mitgefahren wäre und am liebsten alles eingetauscht hätte. Ihr Leben gegen meins und die nur nichts sagte, weil man so etwas nicht sagt. Mara, die mich irgendwann umarmte, fest und lange, und dann ging. Mich zurückließ, mit flattrigem Magen, nervös. Bis Rick kam, meinen Rucksack verstaute, das Ticket über das Lesegerät zog. Und dabei lächelte, ein Lächeln, tief und weich, das in dieses und kein anderes Gesicht zu gehören schien, so als wohne es darin.
Rick war anders, das spürte ich sofort. Rick, der mich zum Flughafen brachte. Mich und die anderen Fahrgäste, bei dem am Rückspiegel ein Traumfänger baumelte und auf dem Armaturenbrett Kuscheltiere saßen, Bären mit aufgenähten Herzen „I love Germany“. Und neben dem ich ruhig wurde, seltsamerweise sofort ruhig. „Ihre erste Fahrt heute?“ Rick schüttelte den Kopf. Nein, er habe bereits eine Gruppe Kanadier zum Flughafen gebracht. Europe in 10 days. Er grinste. Die hätten ihm auch die Teddybären hier gegeben. Gingen nicht mehr in den Koffer. Rick nahm eine CD aus dem Handschuhfach und legte sie ein. Janis Joplin „Pearl“, 1971. Wo’s denn hingehe, wollte er wissen. „Zuerst nach London und dann sehe ich weiter.“ Rick stieß einen leisen Pfiff aus und sein dünner Ziegenbart wippte dabei.
Ich hatte mich lange mit dem Gedanken getragen, ein Sabbatjahr zu machen. Raus aus dem Schuldienst, weg von den Kindern und Jugendlichen, den ewig nörgelnden Eltern. Ich hatte versucht, die Argumente in meinem Kopf zu ordnen, hatte sie mal auf die eine, mal auf die andere Seite gelegt, wie Gewichte auf einer Balkenwaage. Und wenn Mara nicht gewesen wäre, Mara, meine beste Freundin, die Familie hatte, zwei Kinder und Verantwortung, wie sie es nannte, die sagte: „Du kannst doch so was machen. Wenn nicht jemand wie du?“, ich glaube, alles wäre anders gelaufen.
Rick fuhr ruhig und nicht besonders schnell. Rechts von uns erhoben sich flache Hügel, Dörfer passierten, Kirchtürme, eine Burg. Die Felder waren wintergrau, der Himmel hing tief, nur ab und zu zwängten sich ein paar Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke. Einmal, als ein klappriger Lieferwagen mit einer Holzladung vor uns fuhr, überholte Rick und als der Verkehr ins Stocken kam, nahm er die nächste Ausfahrt und fuhr auf der Bundesstraße weiter. „Eigentlich viel hübscher“, sagte ich. „Also ich meine, man sieht mehr.“ Rick nickte und trank einen Schluck Mineralwasser. Irgendwie erinnerte er mich an diese Alt-Hippies, braungebrannt und in Flip-Flops, die Mara und ich einmal auf Bali gesehen hatten. Bei unserer letzten gemeinsamen Reise, als wir mit dem Rucksack unterwegs waren, direkt nach dem Studium. Ich schaute auf die Uhr. Mein Flug ging in dreieinhalb Stunden. „Ich bringe dich rechtzeitig“, sagte Rick. „Ich bringe dich rechtzeitig.“ Wie er das sagte, mich duzend und so, als sei es ihm wirklich wichtig, dass ich ohne Hektik meinen Flug erreichte.
Ich habe oft mit Mara über diese Reise gesprochen. Abends, wenn wir in meiner Küche saßen und Wein tranken. Und Mara nach einer Weile unruhig wurde, ihr Blick umherzuschweifen begann, in die erleuchteten Fenster der Nachbarhäuser, über die Dächer hinweg, so als suchte sie etwas. Und vielleicht war es das, was uns antrieb. Uns Reiseführer studieren ließ, mit dem Finger über Landkarten fahren, weshalb wir Notizen machten von all den Orten, die uns verheißungsvoll erschienen. Den Dachgärten in Manhattan, den heißen Quellen in Island, Amsterdam mit seinen Grachten. So lange, bis die Seiten unseres Notizbuchs gefüllt waren und ich sagte: „Du, Mara, ich mach‘s anders. Ich fliege nach London, ich setze mich in die Truman Brewery im East End und trinke ein Bier. Und dann sehe ich weiter.“
Ich fragte Rick, wie lange er schon Shuttle fahre. „Seit zehn Jahren“, antwortete er. „Als ich wieder zurückkam aus den Staaten. Da dachte ich, das ist so ein Job, angenehm und leicht. Zumindest im Vergleich zu dem, was ich vorher gemacht habe. Animateur, dann Gastroszene, es war alles dabei. Und eigentlich ist das jetzt nur noch Zugabe.“ Zugabe? Ich verstand nicht. Janis Joplin röhrte „Me and Bobby McGee“ und Rick trommelte aufs Lenkrad. Er hatte kräftige Hände, mit großen, rundlichen Nägeln. „Ich habe neun Jahre in einem Club in Kalifornien gearbeitet. Acht Monate Arbeit, vier Monate frei. Ich habe mich um die Singles gekümmert. Versucht, die Sache zum Erfolg zu bringen. Ein 14-Stunden-Tag. Aber auch irre. Was man da erlebt“, Rick grinste und zupfte an seinem Ziegenbart. Diesen einen Typ aus Arizona, den werde er nie vergessen. Sei eines Tages mit seinem Rolls Royce vorgefahren, neben sich eine Schaufensterpuppe mit engem Kleid, Perrücke und Kopftuch. Der sagte doch dann glatt zu ihm, er habe genug von „the fucking doll“ und wolle jetzt was Lebendiges. Rick lachte und sein Bart wippte dabei. Ich sah auf die Uhr. Noch 20 Minuten bis Frankfurt.
Wenig später kam die Sonne raus, arbeitete sich zwischen den Wolken hindurch, fiel auf die Windschutzscheibe. Alles wirkte jetzt heller, wie angestrahlt und unter einem Vergrößerungsglas. Der Staub auf dem Armaturenbrett, die Krümel auf der Ablage und die feinen Falten auf Ricks Stirn und um seine Mundwinkel herum. Ich schätzte ihn auf um die 70. „Und was sind deine Pläne nach London?“ Rick schaute mich von der Seite an, im Blick ehrliche Neugier. Ich wurde unsicher, sagte, dass ich eine Liste mit Orten angelegt hätte, es aber nicht funktioniert habe. Es habe sich, ich zögerte, irgendwie falsch angefühlt. Ich erwartete, dass Rick jetzt komisch reagieren würde, aber er sagte nur: „Verstehe. Ich kann das gut verstehen.“
Wir waren kurz vor Frankfurt. Der Verkehr wurde dichter und am Himmel zeigten sich die ersten Flugzeuge. Rick holte seine Sonnenbrille aus dem Etui. „Und was hast du nach dem Club gemacht?“, fragte ich. Er wiegte mit dem Kopf. „Ich habe eine Bar auf La Gomera aufgemacht. Unweit vom Strand. Unter Palmen habe ich Fisch und Burger gebraten. Kaffee und Drinks ausgegeben. Die Leute waren angenehm. Backpacker ohne viel Geld. Deshalb war ich auch billig. Ich wollte diese Leute und keine anderen.“
Als wir am Terminal ankamen, verteilte Rick das Gepäck und verabschiedete sich von den anderen Fahrgästen. Dann holte er Tabak aus seiner Hosentasche und begann sich eine zu drehen. „Magst du auch? Also ich meine, hast du noch einen Moment Zeit?“ Ich nickte, und wir setzten uns ins Auto, stellten die Sitzlehnen zurück und rauchten. Meine Zigarette war dick, sah aus wie ein Joint. Rick schien meine Gedanken zu erraten. „Alte Gewohnheit“, grinste er. Ich schloss die Augen und als ich sie wieder öffnete, fiel mein Blick auf den Traumfänger. Ob Rick dran glaube, wollte ich wissen. Dass die guten Träume durchgingen und die schlechten hängenblieben. „Irgendwie schon“, sagte er. Besonders gefalle ihm die Vorstellung, dass die Morgensonne die schlechten Träume neutralisiere. Ja, dass alles Energie sei und wandelbar, diese Vorstellung gefalle ihm. Und dann machte er etwas, was mich bei jedem anderen irritiert hätte, griff zum Armaturenbrett und nahm einen der Bären. „Willst du? Ich schenke ihn dir. I love Germany.“ Ich kicherte. Aber seltsamerweise trug mich dieser Bär, kuschelte ich mich mit ihm durch das Jahr. In dem ich suchte und manchmal auch glaubte zu finden, für kurze Zeit zu finden. In dem ich Mara anrief. Ihr erzählte. Von all den Orten, die ich bereiste. Den Menschen, die ich kennenlernte. Und auch von Rick. In dessen Gesicht ein Lächeln wohnte. Den ich nicht vergessen konnte.